Samstag, 4. Juni 2011

Sommer in Oberdahlhausen

In meiner oberbergischen Heimat hätte es bei diesem Wetter nur zwei Alternativen gegeben. Entweder ins Freibad, wo die Assis um den fetten Behnke hinterm Eingang lauern: "Na, sieh mal an, da will wohl einer auf die Fresse!" Oder mit dem Rad den steilen Berg rauf und wieder runter zur Talsperre. Da am steinigen Hang ein Handtuch ausbreiten, Handballer Markus erzählen lassen, was er wieder krasses geklaut hat (mindestens einen Fahrrad-Lenker oder Motorrad-Helm - und die Verkäufer wieder nix gecheckt). Oder im Schlauchboot übers Wasser mit Henning aus dem christlichen Elternhaus (zum Abendbrot nach Hause, sonst Ärger mit Depri-Mutti). Hier im Ruhrgebiet sind mir die Freunde abhanden gekommen, mit denen es zum Wasser ging. Ich streife also durch die Straßen, über den kochenden Asphalt. Durchs In-Viertel Ehrenfeld. Vor der Butterbrot-Stube heult ein Kind und kloppt immer wieder seine Flasche auf den klapprigen Tisch. Ein unerträglicher Lärm. Drinnen dafür Ruhe und lecker Butterbrot mit Tête de moine. In der chrom Galerie machen sie Sale. Ich liebäugle mit einer Winterjacke und alle bestärken mich. Auch mein Vater am Telefon: "Antizyklisch denken ist beim Klamottenkauf stets klug." Und Tobas: "Du freust dich dann fünf Monate lang wie verrückt darauf, dass es wieder kalt wird." Alles klar, das Ding ist gekauft. Die Verkäuferin: Willste lieber ne Tüte, damit keiner Sprüche klopft - ne Winterjacke bei den Temperaturen?. Ne, hab ja mein Auto direkt vor der Goldkante geparkt. In der Goldkante eine Theater-Performance. Acht Stunden lang der totale Hirnriss. Kann sein, dass ich das jetzt nur so empfinde und gerade auch ein bisschen ignorant bin, weil bei dieser Hitze ja nur geringe Teile der Hirnfunktionen richtig arbeiten. Aber die bewegen sich da so gespreizt und maniriert durch den Laden in wallenden Tüchern und mit weiß geschminkten Gliedmaßen. Sieht aus wie eine Tanztheaterparodie von Harald Schmidt und Herbert Feuerstein. (Das waren noch Zeiten!) Draußen bereitet jemand Salat zu. Rohkost! EHEC! Ich rücke ein Stück zur Seite. Keine Ahnung, was das soll. Passt aber ins Bild des diesjährigen MegaFon-Festivals der Bochumer Theaterwissenschaftler. Bochum ist wohl doch weit von Gießen, zumindest in diesem Jahrgang. In der Rotunde haben die Studenten "Installationen" eröffnet: Eine ist mit der analogen Spiegelreflex los und hat ohne Sinn und Verstand in den nächtlichen Ruhrgebietshimmel geknipst. "Eindrücke von Weite im urbanen Raum". Quatsch-Konzept, schlecht umgesetzt. Daneben ein Raum vollgestellt mit Zeug, in der Mitte ein Kassettenrekorder (Analoge Spiegelreflex, Kassettenrekorder - Sehnsucht nach dem vordigitalen Zeitalter?), der angeblich Stimmen von Menschen abspielen soll, die noch nie im Ruhrgebiet waren, aber darüber sprechen. Was man hört, ist bloß ein unangenehmes Rauschen und Zischen. Da lob ich mir doch den USB-Stick! Gute Marketing-Idee, fällt mir ein, für die städtische Müllabfuhr Bochumer Umweltservice (USB): USB-Sticks für die Sacksammler (So nennen sie intern die Leute, die ihr Plastik nicht in die Gelbe Tonne, sondern in den Gelben Sack stecken). Ein weiterer MegaFon-Unfug findet in einem Fitnessstudio statt: Zwei Studentinnen bewegen sich zum Thema Zeit. Irgendwie ungelenk rennen sie und tanzen, hecheln, schnaufen. Wecker klingeln. Alle Assoziationen, die aufscheinen, sind sofort wieder vergessen, weil das irgendwie so egal ist. Ich sehne mich nach dem Sommer in Oberdahlhausen. Da tanzen keine Studentinnen, da brüllt auch nicht der Arbeitslose im Hinterhof die Hunde an. Da zwitschert höchstens mal ein Vogel. Eigentlich bin ich ganz froh, dass da jetzt mein Auto gleich vor der Tür steht, obwohl ich ganz in der Nähe wohne. Ständig muss ich mich rechtfertigen: Mein Fahrrad ist kaputt, Mann! Aber das Auto - hach. Ist doch schön: Da dreht man die Fenster runter, surft mit dem Arm durch den erfrischenden Luftzug und hört laut Musik. Zum Beispiel Tom Waits "Ol' 55". Entschleunigung. Und es ist ja auch so einfach, hier in Deutschland zu fahren. Auf der rechten Seite der Straße. Nicht wie zur Pressekonferenz mit Ringo Starr in Cranleigh, Surrey. Dort das Steuer rechts und links unterwegs und mehrfach fast einen Unfall gebaut. Aber das ist eine andere Geschichte.