Dienstag, 26. Juli 2011

Bochum Total 2011: Das Fest der reinen Liebe

Der Legende nach ist Bochum Total ein Musikfestival. Das größte Europas gar. Millionen, so die Überlieferung aus Vor-Duisburg-Zeiten, schoben sich einst durch die Straßen der grünen Ruhrgebietsinsel (Bochum), um Bands zu sehen. Angesagte! Als ich erfuhr, dass die Redaktion mich nicht schreiben lassen wollte, reagierte ich verständlicherweise mit Enttäuschung, Trauer und Wut. Wälzte mich auf dem borstigen Teppichboden, schrie und jammerte und stampfte schließlich sogar mit dem Fuß auf. Es half nichts. Meine Karte für den Pressebereich bekam ich von der Konkurrenz ausgehändigt. Danke nochmal, Konkurrenz. Eine absolut folgerichtige Entscheidung musste gefällt werden: Ich würde die Konzerte meiden und mich auf die wichtigen Dinge konzentrieren. Auf den persönlichen Spaß, der an die Stelle der großen Leere treten sollte, die mich stets aushöhlt. Da gerät der Magen schnell aus dem Takt. Ich kaufte mir also Milden Multivitaminsaft, nicht nur wegen der Alliteration, und Wodka Grasovka. Diese Mischung, etwa Hälfte Hälfte, und das darf man ruhig als Tipp verstehen, ist der sanfteste Weg zur Betrunkenheit, den ich kenne. Mit ihm im Gepäck - natürlich in der Plastikflasche! - sind die Bühnenlichter, der Nebel und die grunzenden Bässe aus der Ferne keine Bedrohung mehr. Und jetzt ist auf einmal Präsens. Ich bleibe sogar kurz bei Rage Against The Machine stehen, die die Pottmob-Bühne rocken. Um mich herum 60- bis 70-Jährige, die verständig mit dem Kopf nicken. Dem Programmheft entnehme ich jedoch, dass Pottmob ein Internetportal für junge Menschen von 14-22 ist. Hier habe ich nichts mehr zu suchen, verdrücke mich ins nahe Edelrestaurant Livingroom. Auch dort werde ich mit dem Alkohol in der Plastikflasche problemlos eingelassen.

Livingroom egal, interessanter: Schnick-Schnack-Schnuck-WM. Wie jeden Bochum-Total-Samstag findet sie vor der Kneipen-Legende (allein hier vergangenes Jahr eine halbe Million Gäste) Intershop statt. Vorher muss die Fee gefunden werden. Die Fee ist der Dreh- und Angelpunkt einer jeden Schnick-Schnack-Schnuck-WM: Sie ist adorable, steht vorzugsweise auf einem Mülleimer und verliest die Wettkampfs-Paarungen. Der erfahrene Veranstalter ist erst wenig begeistert, als sich ein junger Wildfang bewirbt. "Eventuell ist sie nicht asozial genug", gibt er mit melancholischem Blick zu Bedenken, "eine Fee muss immer auch ein wenig asozial sein..." Am Samstagabend jedoch ruft die Neufee, die die Mülltonne gegen einen Barhocker getauscht hat, vornehmen Respekt bei den Teilnehmern hervor. Sie hat sich rosa Blumen ins ebenhölzerne Haar gesteckt, trägt ein blütenweißes Kleid, Cowboy-Stiefel aus Büffelleder und einen blutroten Campari-O im Kaffeebecher. "Fee, Fee!", ruft die Schar zwar, wenn sie die Namen aus der Losbox greift. Auf "Ausziehen, Ausziehen"-Rufe wird jedoch dezent verzichtet. Besonders spannend das Halbfinale: Weibliche Nachwuchshoffnung gegen Vorjahresfinalisten. Dreimal zeigen beide Papier. Unfassbar! Eine Auszeit wird beantragt. Der pädagogisch geschulte Schiedsrichter nimmt die Gegner zur Seite, spricht eindringliche Worte: "Ihr müsst jetzt auch mal was anderes nehmen!" Das Publikum kennt die Lösung: "Scheeere", ruft es der Dame zu, "damit schlägst du das Papier!" Die Gedankengänge der Halbfinalisten sind praktisch greifbar: "Wird sie auf das Publikum hören?" "Wird er es wieder mit dem Papier versuchen. Oder den Stein? Oder gar den fürchterbaren Brunnen auffahren?" Sie entscheidet sich für Schere. Er wieder für Papier. Irre! 0:1! Das Publikum ist komplett aus dem Häuschen, wildfremde Menschen liegen sich weinend in den Armen. In der Folge verliert sie binnen Sekunden 3:1. Ich selbst verfolge das Geschehen nicht, draußen sind es unter 20 Grad und es fiselt. Sitze im Intershop und hänge trübsinnigen Gedanken nach. Frei nach Blumfeld: "Wo komm' all die graaaauen Wolken her?"

Dinge, die ich bei Bochum Total verpasst habe:
- Das spannende Halbfinale der Schnick-Schnack-Schnuck-WM
- Bands
- Die legendären Kopfhörerpartys im Zacher und ihre liebenswerten Helferchen
- Zwei Steaks in eins Brötchen
- Alte Schulfreunde treffen
- Einen Hut kaufen
- Eine alte Vorliebe einzutauschen gegen etwas Neues
- Den Rapper Casper falsch schreiben

Nicht verpasst habe ich die formidable Samstagsparty in der liebenswerten Hafen-, Fußball, Rock-, Poetry-Slam-, Greenpeace- und Piratenkneipe Freibeuter. Dass dieser Abend zur Legende wird, erzählt jeder kondensierte Schweißtropfen, der von der Decke tropft. Ein lieber Freund spricht mich vorsichtig an:
"Komm, lass uns abhauen - in' Shop!"
"Nee, ist doch super hier!"
"Ach komm, wir gehen noch in den Intershop!"
"Nee, guck doch mal: Die tanzen da jetzt alle!"
"Ja, aber im Intershop geht's jetzt richtig ab!"
"Lass mal hier bleiben!"
"Ich geh in' Intershop!"
"Lieber hierbleiben."
"Intershop."
"Hier."

Was an diesem Abend im Intershop wirklich geschah, dazu am besten frei erfundene Zitate des Personals: "Samstagnacht, Bochum Total 2011: ein kosmisches Ausnahmeereignis! Das Kellnerteam ja sowieso, aber auch die Gäste: Bezaubernd, liebenswert. So eine gute Stimmung! Alle höflich, gepflegt ausgerastet, eine Atmosphäre der reinen Liebe. Reine Liebe, das mein ich echt so! Und die Musik des DJs - besser geht das einfach nicht. Geht. Das. Einfach. Nicht." Und ich war mit dabei. Ich habe die besten meiner Generation - und der nachfolgendenden - seelig lächeln, bezaubernd tanzen und herzzerreißend mitgrölen sehen. Ich habe Kellner kopfüber von der Theke springen hören. Wie um aufzuwachen aus einem Wachtraum. Bochum, ich komm aus dir, Bochum ich häng an dir. HALLO?!