Montag, 13. August 2012

Bob Dylan’s 2012th Dream

Es fühlte sich überraschend perfekt an, ganz allein auf dem Zeltplatz. Im Campingstuhl am Chaostisch unter den Baumarkt-Pavillons. Irgendein Biermix-Zeug im Getränkehalter. Im Westen ein goldener Sonnenuntergang. Aus dem Osten dröhnt Musik. Die Tune-Yards? Egal. Mit der Gitarre in der Hand die zweite Strophe von Katja niedergeschrieben: „Katja glaubt schon lange an das Ende / Und das es ganz bestimmt schon sehr bald kommen wird.“ Ganz bestimmt schon sehr bald… kann man nicht komplett zufrieden mit sein. Aber es wird wohl klar: Katja glaubt ans Ende. Der Welt? Wahrscheinlich. Zumindest ihrer Welt. Vielleicht wartet sie sogar darauf. Die anderen kommen zurück. Trinken, talken, grillen. Am eigentlich blauen Horizont blitzt kurz die Ahnung einer schwarzen Wolke auf. Eine sehr dichte Wolke, die aus Vögeln zu bestehen scheint. Aus schwarzen Raben, die zu Asche zerfallen oder so. Die Asche wird zu einem Mann im schmal geschnittenen dunklen Anzug mit Stock und Hut. Er wandert umher, aber geht ein wenig unrund. Wie ein Huhn. Oder Geier.

Ich denke zurück an mein erstes Haldern-Festival. 2003 muss das gewesen sein. Patti Smith spielte zum 20. Jubiläum. Die legendäre Patti Smith. Vor ihrem Auftritt spazierte sie gedankenverloren über den Zeltplatz. Einfach so. Die Leute tuschelten: „Ist das Iggy Pop?“ Bald verbreitete sich die Nachricht: Die berühmte Künstlerin, beste Interpretin von Springsteens „Because The Night“, läuft hier einfach so umher. Ganz volksnah. Wie auf der Suche nach dem Woodstock-Spirit, beziehungsweise dem, was heute davon übrig ist. Das hat ihr ganz schön Zeltplatz-Credibility eingebracht. Ob sie sich tatsächlich mit Festivalbesuchern unterhalten hat, ist nicht überliefert.

Anders als meine Geschichte. Sie handelt von tba, also dem freien Slot auf dem Haldern-Spielplan ein Jahr vor dem 30. Jubiläum. Schnell machte ein absurdes Gerücht die Runde: Bob Dylan sollte ihn füllen. Es ist klar, was das heißt: Alle halten das für groben Unsinn – unwahrscheinlicher geht’s ja auch nicht – aber sind auch fasziniert. Gerüchte über die noch geheimen Bands haben hier bislang immer gestimmt. Und jetzt wackelt da dieser Mann im schwarzen Anzug umher. Während ich die Worte der zweiten Katja-Strophe im Kopf jongliere, beobachte ich die Szenerie. Und stelle bei genauerem Hinsehen fest: Der Mann wird verfolgt von zwei oder sogar drei weiteren Typen. Sie sehen ziemlich unauffällig aus, das heißt: sie sind nur unwesentlich älter als der für Popfestivals doch relativ alte Durchschnittsbesucher hier und tragen irgendwie so Jeans und T-Shirt. Sie halten sich in ziemlich sicherer Entfernung, das heißt: sie könnte einen Angreifer höchstwahrscheinlich vor dem Tod des berühmten Songwriters erledigen, werden aber trotzdem nicht gleich blöd als Bodyguards erkannt.

Während ich so daher denke, kommt mir plötzlich alles gar nicht mehr so unwahrscheinlich vor: Bob Dylan spielt momentan fast immer vor fünf- bis siebentausend Zuschauern, also genau der Haldern-Besucherzahl. Er mag Open-Airs. Der Wind, der (Antworten) über die Bühne weht, entlockt ihm manchmal ein Lächeln. Und die Sonne erleichtert ihm den Blues. Er mag es, neue Generationen zu knacken und nicht immer dieselben eingerosteten Visagen bei seinen Konzerten zu sehen. Etwas in der Art sagt er jedenfalls in seinen Chronicles. Ich glaube: Er schaut deshalb selten bis nie ins Publikum, weil er Angst vor diesen Gesichtern hat – und dass er sie als Spiegel deuten könnte. Und warum sollte dieser Bob Dylan, den man sich zwar nur hinter den getönten Scheiben eines Tourbusses vorstellen kann, den Tourbus nicht dann und wann verlassen? Immerhin ist sein Leben eine Never-Ending-Tour und irgendwo muss die Erfahrung doch herkommen, die weiter alle paar Jahre ein Album füllt.

Vielleicht, weil wir so ein schönes Bild abgeben, kommt das kleine, schwarze Männlein nun auf uns zu. Stefan und Ariane sitzen auf einem riesigen Aufblas-Sofa und kiffen. Die Truppe um Linda verkohlt Brot und Würstchen auf dem Grill. Die Schweizer singen sich einmal quer durch ihr Beatles-Songbook. Und gerade, als sie durch den Paul-McCartney-Part von „A Day In The Life“ gestolpert sind und die letzte Lennon-Strophe anstimmen, bleibt Dylan in fühlbarer Entfernung stehen. Die mit dem meisten Alkohol intus bringen den Song zu Ende. Die anderen starren, so wie ich. Es bleibt einem ja auch fast nichts anderes übrig in Anbetracht der abstrusen Unwahrscheinlichkeit des Ereignisses und des irrsinnigen Legendenstatus des Sängers. Das hatten wir alle nie geprobt.

Der erste, der den Mund aufmacht, ist Stefan, dessen Realität mit unserer im Moment wahrscheinlich wenig gemein hat: „You’d like a beer, sir?“ Doch Dylan hat sich längst etwas anderes ausgeguckt. Er zeigt auf den Chaostisch, genauer: auf eine Flasche mit einer grünen Flüssigkeit. Waldmeister-Likör. Seinen Hang zu grünen Getränken kann man oft auf seinen Konzerten beobachten – immer, wenn er aus durchsichtigen Bechern trinkt. Aus seiner Richtung krächzt es irgendwas mit „taste this?“ und eine der Schweizerinnen, ich glaube Anni, schüttet geistesgegenwärtig einen praktisch blitzsauberen Bierbecher vom letztjährigen Haldern (Wo kommt der denn jetzt her?) voll mit dem Zeug. Der Sänger lässt sich nieder.

Wahrscheinlich aus Langeweile über unsere Fassungslosigkeit nimmt er das Festival-Magazin in die Hand und blättert darin herum. Vielleicht hat kurz den Kopf geneigt, komisch geschnaubt oder mit dem Fuß gescharrt – wie auf ein für uns verborgenes Signal jedenfalls steht plötzlich ein Teil seiner Entourage neben ihm. Und fängt an, das Editorial des Magazins zu übersetzen. Mir ist das unfassbar peinlich. So kreuzreaktionär und nicht zu Ende gedacht war der einleitende Text darin noch nie. Wenn er etwas über die Philosophie und den Spirit des Haldern-Festivals sagt, dann nur über den kleinen, eher unsympathischen Teil. Der Veranstalter wendet sich darin mit schwülstigen Worten gegen den Nahverkehr. Gegen die günstige Möglichkeit, ein Dorf wie Haldern schnell zu verlassen. Weil das die ländliche Gemeinschaft zerstört, das kulturelle Leben im Keim erstickt. Irgendwie so. Ich glaube, Dylan hat unsere Fremdscham gleich bemerkt. „Ich glaube, ich weiß, was er meint“, sagt er. „Aber was wäre ich ohne die Züge, die mich aus der Heimat wegbrachten?“

„What would I be?“ Die Frage hallt lange nach. Alle sitzen jetzt da und starren in der Gegend umher. Dylan wirkt jedem von uns so nah wie ein Mensch dem anderen nur sein kann. Wow, diese Falten! Diese Stimme! Doch gleichzeitig wirkt er abwesend wie auf einem anderen Planeten. Sein Blick ist mit offenen Augen verschlossen. Ich fange langsam an, die Situation zu begreifen. Als Chance – oder eher als Möglichkeit, Fragen zu stellen: Warum tourst du so viel? Warum spielst du auf der Bühne nur noch so selten Gitarre? Das zum Beispiel würde ich vielleicht gerne wissen. Aber erst nachdem ich noch ein wenig seine Nähe genossen habe. Ich lehne mich zurück, atme tief durch, schließe die Augen. Zwei weitere Fragen drängeln sich nach vorn: Wie ist das mit der Liebe? Wie erträgt man den Kummer?

Als ich die Augen öffne, ist Dylan weg. Ein Traum? Was wäre das denn für eine witzlose Pointe?

Nein. Linda erzählt mir später, dass er noch mit ihr ins Zelt ist. „Das war strange“, sagt sie. „Als ob er was geahnt hätte, ist er mir einfach hinterher. Setzte sich auf einen Campingstuhl, schlug die Beine übereinander und blickte mich an. Oder vielmehr: durch mich durch. Er fragte: Was ist los? Einfach nur: What’s the matter? Und ich fing natürlich gleich an zu heulen und erzählte ihm die Geschichte. Dass Patrick mir gestern am Feuer einen Heiratsantrag gemacht hat. Wir sind jetzt verlobt, sagte ich und zeigte ihm meinen Ring. Doch da wirkte er schon wieder meilenweit weg, schaute in der Gegend rum. Er wackelte mit dem Kopf wie so ein Wackeldackel. Und war trotzdem bei mir, das konnte ich spüren. Ich wusste, dass er weiß, dass mich die Verlobung in eine Krise gestürzt hat, dass ich an der Beziehung zweifelte wie nie zuvor. Was absurd ist, weil ich immer dachte, dass ich mir nichts sehnlicher wünsche, als die Sicherheit. Als dass dieser Mann, der doch praktisch von Natur aus darauf gepolt ist, rumzubaggern, seine Attraktivität auszutesten, und der das auch mehr als einmal getan hat, sich für mich entscheidet. Für immer – im Prinzip. Das brauchte ich Dylan nicht erst zu erklären. ‚You know what’, sagte er. ‚Es gibt keine Sicherheit. Es gibt Glück und es gibt Unglück. Es gibt gute Bands auf diesem Festival und es gibt Scheiß-Bands. Das weiß ich. Dass es Liebe gibt, glaube ich nur. Weil es den Kummer gibt.’ Ich glaube, er hat ‚that fucking grief’ gesagt. ‚Aber es führt kein Weg an ihm vorbei. Feel it. And I promise you: There will be happy days. Till the end.’“

Dienstag, 10. Januar 2012

Sigmar Gabriel

Da sitzt er nun, regungslos. Auf Standby, kann man sagen. Vor ihm: die Meute. Wobei: Eine Meute kann man die Studierendenschaft von heute ja auch nicht mehr nennen. In meiner romantisierten Vorstellung hätte es an der Ruhr-Universität noch vor wenigen Jahren einen Häufchen Aktive gegeben, die sich als etwas linker als die SPD verstehen und den Besuch des Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel zum Anlass für eine Demonstration genommen hätten. Gegen Sozialabbau. Oder irgendwas mit Studienbedingungen. Aber selbst das ist heute ja wieder schwierig: Die SPD in ein eindeutiges Feindbild einzubetten. Damals, 1998, als Gerhard Schröder sich anschickte, Kanzler zu werden, da sind wir hin zum Parteitag in der Bochumer Ruhrlandhalle. Die Wahlplakate mit ihm und seinem staatsmännischen Grinsen hatten wir von den Laternenmasten gerissen und trugen sie hoch erhoben, aber falschherum hinein, um zu zeigen: Wir möchten ja schon, dass nach 16 Jahren Kohl mal etwas anderes kommt, deshalb tragen wir deine Rübe durch die Gegend. Aber wir sind skeptisch, ob du das wirklich besser machen wirst, Herr Schröder. Beweis das erst mal, dann drehen wir das Ding vielleicht herum.
Auf eine merkwürdige, kaum zu fassende Art, habe ich Gerhard Schröder dann doch gemocht. Die großen Reportagen der glücklichen Redakteure der Süddeutschen Zeitungen verschlungen, die mit ihm auf Staatsreisen gehen durften. Sie reagierten natürlich wie jahrzehnte geschlagene, geschundene Hunde, die man plötzlich wieder streichelt: Verzückt, nahezu überdreht freudvoll berichteten sie vom gemeinsamen Rotweintrinken im Flugzeug, Fußballspielen mit dem mexikanischen Präsidenten, dem kulturaffinen, offenen und freien Wesen der neuen Alpha-Männer.
Und nun, wo Alpha-Männer ein wenig aus der Mode geraten sind, sitzt da also Sigmar Gabriel vor den Studierenden der Ruhr-Universität. Brav warten sie auf den Sitzen, Treppenstufen, unter Tischen, Tafeln, begraben unter Jackenbergen und Kamerastativen. Der Raum ist so voll, dass er einem kubistischen Gemälde gleicht: Irreale Formen, unzusammenhängende Körperteile. Vorne Sigmar Gabriel als nasser Sack, der von einem älteren Typen mit Bart vollgequatscht wird, den die Insiderstudentinnen von unter der Tafel nur "Häkelmützchen" nennen. Weil er eine Häkelmütze trägt. Am Ende seines aus der Ferne unverständlichen Monologs überreicht er dem SPD-Vorsitzenden eine Klarsichthülle mit selbstgemalten Unterlagen. Sigmar Gabriel nimmt sie freundlich entgegen. Hier wundere ich mich das erste Mal: Der Politiker war mir bisher wenig, und wenn, dann eher negativ aufgefallen. In der Phase vor meiner Politikverdrossenheit, also während der Regierung Schröder, geisterte er als gescheiterter niedersächsischer Ministerpräsident durch die Medien, der den großen Gerhard natürlich nicht beerben konnte. Man schob ihm den Posten des "Popbeauftragten" der Bundesregierung zu. Absurd. Fast noch bescheuerter als Dieter Gorny. Damit war er für mich abgehakt. Und nun sitzt er hier nur wenige Zentimeter vor mir und ist nett zu einem Vollfreak mit Häkelmütze. Respektvoll. Bei seinem Vortrag bin ich dann völlig baff: Er ist redegewandt, schnell, witzig, selbstironisch, total reflektiert. Sieht das Ende des Marktradikalismus und Neoliberalismus, weil es so ja nun wirklich nicht weiter geht. Geld darf nicht mehr die Welt regieren. Er sieht das total ein, dass keiner mehr Vertrauen in Politiker hat. Nennt ein Beispiel, wo die eigene Partei Mist gebaut hat: Als sie sich im Wahlkampf deutlich gegen eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ausgesprochen hat und sie dann in der großen Koalition mit der CDU prompt um drei Prozent erhöhte. O-Ton Gabriel: "Weil die Forderung der SPD nach null Prozent Erhöhung mit der der CDU nach zwei Prozent Erhöhung in der Summe natürlich drei Prozent ergab." Das gefällt hier allen. Auch seine Einschätzung, dass man als SPD-Mann vor 20 Jahren noch vor Arbeitern sprechen und als einer von ihnen anerkannt wurde. Heute würde man hingegen als Alien, als einer von denen da oben angesehen - weil man ja Politiker sei. Diese fast schonungslose Selbstreflektion und auf eine Art entwaffnende Ehrlichkeit macht etwas mit dem jungen Wissenschaftlernachwuchs: Im großen Hörsaal sind bald alle verliebt in Siggi. Selbst mir fällt es schwer, die journalistische Distanz zu wahren. Der Ringbuchblock ist voll begeisterter Adjektive, die ich jetzt glücklicherweise nicht mehr lesen kann, weil sie so emphatisch dahingeschmiert wurden. Nach der Aufforderung zur Diskussion hätten die Studierenden ihren neuen Lieblingspolitiker am liebsten nur noch wortlos in den Arm genommen. Ein bis vor wenigen Minuten noch neoliberaler Wirtschaftsstudent mit Anzug und Krawatte unternimmt den zögerlichen Versuch einer kritischen Nachfrage. Irgendwas mit Wettbewerbsverzerrung durch Mindestlohn. Doch ihm ist deutlich anzumerken, dass er ideologisch längst umgeschwenkt ist, bloß noch keine Worte für seine sozialdemokratische Gesinnung hat. Bereits der nächste in der Fragerunde spricht aus, was allen auf den Herzen brennt: "Wenn sie Kanzler würden..." Weiter kommt er gar nicht, weil tosender Applaus ausbricht. Ja, Sigmar Gabriel als Kanzler! Etwas schöneres ist kaum vorstellbar! Sogar Häkelmützchen wirkt jetzt ruhig und entspannt. Als er vor versammelter Mannschaft noch einmal das nervöse Wort erhebt, bestärkt der zukünftige Kanzler sein Versprechen, dass er sich um sein Rentenversicherungsproblem persönlich kümmern werde. Niemand hier, der das bezweifelte.