Montag, 11. August 2014

Haldern 2014: Broken Pieces

Draußen fliegen Leitplanken und Lkws vorbei, drinnen zerbröselt mein trockenes Käsebrötchen. Die Krümel sind überall. Nie wieder Billig-Bäcker! Ich schaue an mir runter, wische Krümel von Hemd und Hose und komme von der Spur ab. Wieso ist Brötchenessen am Steuer erlaubt, aber Telefonieren nicht? Scheint mir viel gefährlicher. Tief durchatmen. Die Krümel erinnern mich an etwas, eine Szene aus „Just Kids“. Ich habe Patti Smiths’ Buch über ihre Beziehung zu Robert Mapplethorpe nie gelesen, aber Freunde haben mir Szenen daraus erzählt. Zum Beispiel die, in der Robert Mapplethorpe bei einem Spaziergang plötzlich stehen bleibt und sich in der Betrachtung eines zersprungenen Kirchenfensters verliert. Er beugt sich zu den Scherben am Boden und fängt vorsichtig an, sie nach Größe und Farben zu sortieren und neu zusammenzusetzen. Patti Smith schreibt, dass sie das Bild dieser in der Sonne schimmernden Farben-Collage, die ich mir ein bisschen wie Gerhard Richters Fenster im Kölner Dom vorstelle, bis heute in ihrer Erinnerung bewahre. Bei Robert Mapplethorpes Tod blitzte es auf und sie fragte sich, ob sie in der Lage sein würde, ihr in Scherben liegendes Ich neu zusammenzusetzen - „to face the future and stand the past“. Ich fragte mich, ob sich die trockenen Krümel in meinem Auto vielleicht zu einem saftigen Stück Kuchen zusammensetzen lassen würden – und wann endlich dies latent depressive Ich zerfallen würde, das ich seit dem Herbst mit mir herumtrage. Nächste Ausfahrt: Haldern Pop Festival.

Seit einigen Jahren treffen wir auf dem Haldern Pop liebe Menschen aus Österreich, die gute Freunde und Vorbilder geworden sind. Sie saufen vorbildlich, weil kultiviert: Schwechater und Otterkringer sind viel besser als unser Pils und der „Spritzer“ wird mit gutem burgenländischem Wein gefertigt, von dem sie gleich 36 Flaschen gekauft haben, damit es nicht zu Engpässen kommt. Eine Abordnung kauft jeden Morgen eine Auswahl internationaler Tageszeitungen, alle arbeiten sie akribisch durch und diskutieren anschließend weltpolitische Entwicklungen und das Feuilleton im Vergleich. Nachts singen sie voller Inbrunst zur Gitarre am Lagerfeuer – hintersinnige Austropop-Schlager und feinen Folk von Neil Young oder den Toten Hosen („Bayern“). Mira und Sibylle aus Wien, die oft gedankenverloren unbekannte Punkte in der Ferne fixieren, lehren mich, dass es lohnend ist, unsere heimelige Ecke auf dem Zeltplatz dann und wann zu verlassen und in die örtliche Kirche zu spazieren. Hier finden seit einigen Jahren Konzerte im Festivalprogramm statt, die das Publikum in großer Aufmerksamkeit und Andacht verfolgt.

Die schwangere Linda hat eine Pipi-Train eingerichtet, das heißt, dass man sie zu regelmäßigen Abfahrtszeiten zur Toilette begleiten darf. Ich nutze die Gelegenheit um 18.12 Uhr und bewundere Linda, dass sie zwei Monate vor ihrem Geburtstermin noch mit auf das Festival gekommen ist: „Ich habe eine ganz tolle Schlafwurst und habe damit lange nicht mehr so gut gelegen wie hier auf der Luftmatratze“, sagt sie. „Wie kriegen wir das denn hin, dass der Kleine nächstes Jahr mitkommt?“, frage ich. „Wir setzen ihm gleich nach der Geburt Kopfhörer auf“, sagt Linda. -„Warum?“ –„Weil er die später als Lärmschutz vor der Bühne tragen muss.“ Ich stelle mir den kleinen Kopfhörer-Zwerg vor und drehe kurz vor den Dixieklos schmunzelnd in Richtung Dorfkirche ab.

Im hohen Gewölbe ist es voll und überraschend fast heißer und schwüler als draußen. Die Leute sind unruhig, während Hüsker-Dü-Legende Grant Hart sich an Kontemplation versucht. Ein Kammerorchester mit Namen Stargaze untermalt seine Songs im Scott-Walker-Stil, intensive, opernhafte Kleinode. Der Gesang changiert zwischen Tuscheskizze und fetten Ölschinken. Manche Stücke sind avantgardistische Klangcollagen und klingen wie zerborstene Kirchenfenster auf einem Boden aus Publikumsgemurmel. Irgendwann bricht Grant Hart einen Song ab: „Ich weiß nicht, ob einige hier vielleicht auf ein anderes Konzert warten“, sagt er, „aber dann sollten sie es lieber draußen tun. Ich brauche etwas Konzentration für das, was ich hier tue.“ Große Teile des Publikums bestärken ihn mit Applaus, doch der Auftritt bleibt schwer fassbar aus dem Takt geraten.

Später am Abend spaziere ich zurück zum Zeltplatz vorbei an Wiesen und Feldern, Kuhweiden und Bauernhöfen, Ställen, aus denen Musik dringt – Melk-Musik. Hinter einem schiefen Haldern-Ortsschild blitzt die Sonne hervor. Die Schönheit dieses Ortes ist überwältigend, aber seit Grant Harts Konzert in der Kirche zweifle ich generell am Konzept Musik-Festival: Schwindet im Überangebot automatisch die Aufmerksamkeit für den einzelnen Künstler? Werden die Leute mir auch in heiß ersehnten Auftritt von Sun Kil Moon reinquatschen? Werden sie Patti Smith als mehr sehen, als das Relikt einer vergangenen Zeit? Als ich das letzte Feld vor dem Zeltplatz erreiche, kann ich es kaum glauben: Wie vor elf Jahren, als sie schon einmal in Haldern gespielt hat, wandelt mir Patti Smith entgegen. Ihre graublonde Mähne schimmert in der Sonne leuchtend weiß. Sie flaniert durch das abgemähte Korn und scheint alle Zeit der Welt zu haben. Ich nehme mir ein Herz und sage: „Good Evening.“

„Hello my friend“, antwortet Patti Smith und es klingt echt, warm und freundlich. Ich nehme Hut und Sonnenbrille ab und sie muss kurz lachen über diese altmodische Geste der Höflichkeit. Obwohl ich in den vergangenen Jahren immer mal wieder berühmte Menschen interviewt habe, bin ich jetzt unsicher. Ich weiß wenig über Patti Smith, habe eher Bilder als Fakten im Kopf: Die Albumcover von „Horses“ und „Wave“, ein Foto mit verwuschelten Haaren hippieesken Steinketten und nackten Brüsten. Etwas an dieser Begegnung erinnert mich an die mit Bob Dylan vor zwei Jahren ein paar Meter weiter: Meine Unsicherheit ist mir nicht unangenehm. Ich glaube, das Patti Smith sie spürt genau wie Bob Dylan sie gespürt hat. Ich glaube, dass sie alles weiß, mein Innerstes kennt, dass ich vor ihr nicht falsch sein muss oder mich selbst belügen. Ein bisschen sind diese Stars so wie ich mir Gott vorstelle. Nach einer wahrscheinlich nur gefühlt langen Phase des Schweigens, sagt Patti Smith selbst etwas: „You know these fields?“, fragt sie und zieht mit der Hand einen weiten Bogen hinter sich. Ich fahre zwar seit elf Jahren auf das Haldern-Festival und betrachte es als eine zweite, oder vielleicht sogar erste, Heimat, trotzdem war ich nie in den Feldern spazieren.

„I've been walking around for hours“, sagt sie, „it’s so beautiful.“ Ich wundere mich, dass sie die Zeit für lange Spaziergänge findet. Ich dachte, man würde als Rockstar viel Zeit im Backstage-Bereich und mit der Band verbringen müssen, abhängen, reden und trinken. „Es ist gerade auf Tour wahnsinnig wichtig“, erklärt mir Patti Smith, „dass man sich Zeit für sich nimmt. Man lebt wie in einer Blase, wird an den Auftrittsorten hofiert, verehrt. Aber nach Jahren weiß man, dass die Leere nach einem Auftritt, nach Plattenaufnahmen, Interviews oder Partys umso größer ist, die Löcher größer und schwärzer. Du entdeckst Seiten an dir, die dir unbekannt waren, die dir eine Heidenangst machen. Du denkst den Tod als Rettungsanker.“ Patti Smith fixiert jetzt gedankenverloren einen unbekannten Punkt in der Ferne und ich bin sprachlos. Von der Schönheit der Felder ist sie sehr schnell auf depressive Zustände und Todessehnsucht zu sprechen gekommen. Aber ich verstehe gut, was sie meint. So wie man sich als Rockstar vielleicht von Auftritt zu Auftritt hangelt, hangele ich mich von einem besonderen Ereignis zum nächsten. Ein Urlaub, ein Festival, ein tolles Konzert, eine Party. Ich glaube, viele Menschen sind heute so. Ihr Glück liegt nicht im Alltag, sondern in der Ausnahme.

„Ich wollte dich nicht verstören“, sagt Patti Smith. „Und ich komme auch nur drauf, weil ich dort hinten in diesem kleinen Buchenhain gerade meinen alten Freund Grant Hart getroffen habe. Er hat mir von seinem Auftritt in der Kirche erzählt. Er fühlte dort, was er lange nicht gefühlt hat: Diese Sehnsucht nach Anerkennung und die tiefen Zweifel, ob das, was man tut, eine Relevanz hat, einen Ort in dieser Welt. Ich frage mich das auch dann und wann. Ich frage mich, ob ich meine Berechtigung für große Bühnenauftritte nur noch habe, weil ich das zwar gealterte, aber das Bild von damals bin. Hast du Conor Oberst gesehen?“ Ich nicke und glaube zu wissen, auf welche Szene Patti Smith anspielt: Conor Oberst sagte auf der Bühne, man habe ihm erzählt, dass er vor elf Jahren schon hier gespielt hat. Jetzt sei er alt, fett, „out of shape“, aber wir würden schon irgendwie klar kommen damit. Er traf damit den Kern von Überlegungen, die ich seit einiger Zeit anstellte: Erlischt die Zugangsberechtigung für bestimmte Bereiche unserer Welt, wenn man ein gewisses Alter überschreitet? Wie überlebt man als Teil der Popkultur, wenn man nicht jung und cool ist? Wie kann ein interessantes Konzept aussehen für ein Leben jenseits der 40? Vielleicht wie das von Mark Kozelek. Der Mann hinter Sun Kil Moon stand bei seinem Auftritt im Halderner Spiegelzelt irgendwann aus dem sicheren Sitz am linken Bühnenrand auf, legte die Gitarre weg und präsentierte einen Hängebauch unterm Doppelkinn: „Conor Oberst hat gesagt, er wäre out of shape. Was soll ich denn sagen?“, fragte er und das ganze Zelt lachte. Zwei Minuten später schossen den Menschen bei „I Can’t Live Without My Mothers Love“ Tränen aus den Augen. Was für ein Wechselbad der Gefühle. Ich habe so etwas noch nie erlebt.

„Grant Hart begleitet mich später bei meinem Auftritt“, sagt Patti Smith. „Wir werden natürlich die alten Sachen spielen, ‚Because The Night’, ‚Gloria’, ‚Horses’. Ich werde für Jerry Garcia spielen, für Lou Reed und Johnny Winter, für Grant und mich selbst. Ich weiß nicht, ob wir diesen Zustand je erreichen werden, dass uns unser Alter egal ist und wie das Publikum reagiert. Wir werden immer wieder in Scherben liegen und uns neu zusammensetzen. Aber das ist okay.“ Sie legt mir ihre Hand auf die Brust, irgendwo zwischen Schulter und Herz, und ich wage nicht, zu sprechen. Mir fällt auf, dass ich nach meinem Guten-Abend-Gruß überhaupt nichts mehr gesagt habe. Aber das macht nichts. Ich spüre der Energie nach, die da fließt. Einer Energie, die ich zuletzt gespürt habe, als ich Salingers „Seymour, eine Einführung“ las. Eine Kraft, die eine Zeitlang Scherben neu zusammenfügen und zusammenhalten kann. Zurück am Zeltplatz finde ich Mira, die über dem Zeit-Feuilleton eingeschlafen ist. Ich wecke sie, damit wir in die Sterne schauen und über Sun Kil Moon sprechen können.

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Foto: Sebastian Schwappacher