Montag, 17. August 2015

Haldern 2015: Das Alter und der Tod

Liebster Gott, wann werd ich sterben? Mit dieser Frage beginnt das Collegium Vocale Gent sein Konzert mit Bach-Kantaten in der Jahrhunderthalle Bochum. Die Worte geistern durch die Stimmen und es klingt wie ein Fallen, Sinken, den Halt, den Boden verlieren. Ich bin beeindruckt – auch wegen der Koinzidenz: Das Konzert gehört zum Programm des Hochkultur-Festivals Ruhrtriennale und ich besuche es kurz nach der Rückkehr vom Popfestival im niederrheinischen Dorf Haldern. Wenn ich mich hier in der Jahrhunderthalle umschaue, gibt es kaum einen Grund, eine Ähnlichkeit zwischen den Veranstaltungen zu erkennen, die sich beide Festival nennen. Doch da ist sogar eine sehr frappierende: Beide haben Bach-Kantaten in ihrem Programm, beide stellen mit dem barocken Meister die Frage nach dem Tod. Nur die Antworten fallen unterschiedlich aus.

Wenn ich mich in der Jahrhunderthalle umschaue, sehe ich viele Menschen, die dem Thema Tod näher sein müssten als ich. Sie waren mal Professoren, Lehrer, hatten hohe Positionen in Unternehmen, Gewerkschaften, in der Politik oder im Kulturbetrieb und verbringen nun ihre restliche Zeit in Theatern, Philharmonien, Industriekultur-Kathedralen, guten Restaurants... In Haldern wird ein Großteil der Menschen erst noch – oder überlegt, etwas zu werden. In den meisten Berufen stimmt ja die Work-Life-Balance überhaupt nicht und es ist besser, sie nicht zu ergreifen. Also lieber einfach mal den Kopf ausschalten und genießen: Die Musik, die Atmosphäre auf dem Camping-Platz, die Menschen, das Dorf. Ein Freund und Lehrmeister hat mir einmal gesagt: Was willst du im Leben anderes erreichen, als den Sand, der dir aus deiner Sanduhr rieselt, ein bisschen bunt anzumalen?

Ich bin jetzt 35 Jahre alt und habe Angst, dass der Sand-Haufen am Ende einen Braunstich hat. Ich will neue Erfahrungen und vielleicht gibt ja sogar das Haldern noch welche her. Ich komme seit zwölf Jahren, der Besuch ist eine der größten Konstanten in meinem Leben. Donnerstagmorgen hole ich zwei Freundinnen aus Wien vom Bahnhof ab, die seit Jahren zu unserer Festival-Familie gehören. Marthas hat sich die blonden Haare schwarz gefärbt und ist noch schweigsamer als sonst. Sie wird bald 30, shock and awe. Ihre spärlichen Sätze klingen, als hätten sie einen weiten Weg aus dem tiefsten Inneren zurückgelegt, in das sie sich zurückgezogen hat, um nachzudenken: Was bedeutet das alles?

Als wir auf dem Festival-Gelände ankommen, ist es immer noch früh. Kurz nach Sonnenaufgang, schließlich wollen wir einen guten Platz ergattern. Trotzdem sind die anderen schon da. Wir fallen uns in die Arme wie Kriegsheimkehrer ihren Angehörigen und nach und nach fallen mir kleine Veränderungen auf: Die windschiefen Plastik-Pavillons wurden durch eine stabilere, edlere, stoffbespannte Version ersetzt. Lampions, Lichterketten und grüne Leuchtäpfel liegen zur Deko bereit. Auf dem Campingtisch steht eine Kochplatte. Den Ankerpunkt für unsere kleine Zeltstadt bildet dieses Jahr erstmals ein Wohnwagen. Stefan sitzt gerade davor und packt eine kleine Toilette aus, die er drinnen installieren will. Nie wieder Dixie-Klo. Zusammen mit seiner Ehefrau Linda hat er sich den Wohnwagen angeschafft, damit komfortables Campen mit Tochter Carla möglich ist. Sie ist jetzt neun Monate alt und hangelt sich an Hockern und Campingstühlen entlang über die Wiese. Mit ihren Augen kann ich die Haldern-Welt neu entdecken, erhoffe ich mir.

Am Ende des Maisfelds, das die nördliche Begrenzung des Campingplatzes bildet, hat ein Bauer einen Getränkestand aufgestellt und bietet Frühstück an. Die Festivalbesucher verweilen hier oder spazieren durch seinen Hof, um ins Dorf zu gelangen. Vorbei an Ställen und großzügigen Weiden, auf denen offenbar glückliche Kühe grasen oder sich gegenseitig die Fliegen vom Fell lecken. Der Weg macht ein paar Kurven und an der schmalen Landstraße angekommen laufen wir der Sonne entgegen. Sie scheint sanft durch die Zweige der Bäume, die der Straße einen Alleecharakter verleihen. „Die Sonne ist ja auch nur ein mittelgroßer Stern irgendwo am Rand der Milchstraße, einer von 50 Milliarden Galaxien…“, sage ich. Seit ich Stephen Hawkings „Kurze Geschichte der Zeit“ gelesen habe, liegen alles relativierende Gedanken wie dieser oft wie ein Basso Continuo unter allen anderen. Vielleicht, weil ich denke, dass sie gegen die Angst vor dem Tod helfen. Und vielleicht habe ich ihn ausgesprochen, weil ich denke, dass er Martha helfen könnte, die weiter schweigsam auf unser Ziel zugeht: Die Kirche.

Die katholische Kirche St. Georg hat eine erstaunliche Größe, dafür, dass in Haldern nur rund 5000 Menschen leben. Noch erstaunlicher ist, dass sie aus allen Nähten platzt, obwohl jetzt weder Popstar noch ein Popsternchen oder Newcomer, von dem gerade alle reden, auftritt, sondern ein Berliner Vokalensemble: Cantus Domus. Die Sängerinnen und Sänger verteilen sich im weiten Kirchenraum, indem sie über Beine, Arme und Köpfe junger Menschen steigen, die es sich auf dem kühlenden Boden gemütlich gemacht haben. Als sie nach einigen Bach-Liedern und –bearbeitungen Knut Nystedts „Immortal Bach“ anstimmen, bin ich wie ausgeknockt. „Komm, süßer Tod / Komm, selge Ruh“ – es sind nur zwei Zeilen des Bach-Lieds, die Nystedt den Chor singen lässt. Doch die verschiedenen Stimmen dehnen und halten die Silben und Töne an unterschiedlichen Stellen, es kommt zu Verschiebungen in Rhythmus und Harmonie, zu spannungsvollen Dissonanzen. Der Chor singt so beeindruckend präzise! Kaum zu glauben, welch tiefe Emotionen menschliche Stimmen allein herauf beschwören können! Scheiß auf Gitarren, ich habe hier und jetzt eine Gänsehaut.

Und dann dieser Text: „Komm, süßer Tod.“ Wie viel Hawking, wie viel buddhistische Literatur muss ich noch lesen, um das freien Herzens sagen zu können, ohne Angst? Vor kurzem kam mir der Gedanken, eine Rückführung auszuprobieren, also eine geführte Hypnose, die frühere Leben gegenwärtigen soll. Wenn das glaubhaft funktioniert, hätte ich zumindest einen begründeten Anlass, auf Wiedergeburt zu hoffen. Ich finde den Gedanken daran tröstlich. Wir wären dann wieder hier und nicht einfach weg oder in der Hölle oder auf Kepler 452b.

„Habt ihr eigentlich manchmal Angst vor dem Tod“, frage ich abends beim Lagerfeuer, als kurz Stille aufkommt. „Mein Gott, Max, du brauchst mehr Alkohol“, sagt Stefan und reicht mir den Pfefferminz-Likör herüber. Nicht den Nordbrand mit 18 Prozent, sondern den unbezeichneten in der kleinen Ampulle, die ein bisschen nach Asterix’ Zaubertrank aussieht. Das Zeug hat 50 Prozent und bald verliere ich mein Thema aus dem Sinn.

Die Nachbarn drehen wieder auf: Sie haben einen Generator mitgebracht, mit dem sie Strom für eine Licht- und Sound-Anlage produzieren, die für eine mittlere Großraumdiskothek reichen würde. Neben der Lautstärke gibt es ein weiteres Problem: Sie spielen keinen Indie-Pop, was dem Charakter des Festivals ja durchaus entsprechen würde. Sie spielen stumpfen Techno und House. Es ist sechs Uhr morgens und Andrea platzt endgültig der Kragen. Sie läuft rüber und redet sich in Rage: Niemand könne bei diesem Lärm ein Auge zumachen, geschweige denn eigene Musik hören oder sich unterhalten. Die Partyjungs sind natürlich schon vollkommen besoffen und murmeln irgendwas von „Die Alte hat sicher schon lange keinen Sex mehr gehabt.“ Ein Festival-Ordner steht tatenlos daneben, obwohl Generatoren und große Anlagen auf dem Camping-Platz klar untersagt sind.

Ich habe überhaupt keine Ahnung, wie ich mich zu dieser Szene verhalten soll. Einerseits tut mir Andrea leid, die so eine Wut empfindet auf einem Festival, an dem auch für sie so viele schöne Erinnerungen hängen. Ich kann ihre Wut verstehen und nachfühlen. Es ist übergriffig und unverschämt, den ganzen Zeltplatz derart laut zu beschallen, dass niemand sich mehr eine eigene akustische Umwelt schaffen kann. Früher haben wir ganze Nächte lang zusammengesessen und die Gitarre kreisen lassen. Andererseits ist das hier eben ein Festival – und soweit ich mich erinnere, habe ich auf Festivals selten in Ruhe geschlafen. Stillstand ist der Tot – vielleicht denken oder fühlen die jungen Leute da drüben so was in der Art. Vielleicht ist Stillstand dieses Wochenende für sie die Abwesenheit von lauter Musik – und das Haldern hat eben keine After-Show-Party. Vielleicht sind wir einfach zu alt, um das zu verstehen. Vielleicht haben wir uns mit dem kommenden Stillstand schon angefreundet.

Es ist ein durchwachsenes Haldern dieses Jahr, man kann das nicht anders sagen. Auch, wenn die Gitarre in der zweiten Nacht doch noch kreist und der Pfefferminzlikör halbwegs leer wird und jeder wenigstens ein Konzert hört, das ihn begeistert, bleibt eine gewisse Lethargie. Eine leichte Schwermut, die sich nur in Carlas Anwesenheit komplett verzieht. Die Kleine sitzt auf ihrer Decke und ist umgeben von Duplo-Steinen, die sie kaum interessieren. Viel interessanter findet sie, womit wir umgehen: Die Plastikflasche oder den Faltplan mit dem Timetable, den wir alle paar Minuten ausbreiten, weil wir schon wieder vergessen haben, wer heute noch alles spielen wird. Clara betrachtet die Dinge mit weit aufgerissenen, neugierigen Augen. „Soll sie mal eine große Musikerin werden?“, frage ich Linda, während von der Hauptbühne die Töne des nächsten Soundchecks herüberwummern. „Vielleicht“, sagt Linda. „Oder doch Managerin eines großen Konzerns?“, hake ich nach – keine Ahnung, warum. Linda denkt nach: „Vielleicht soll sie auch einfach glücklich werden. Oder bleiben.“

Eigentlich wäre das ein schöner Schlusssatz, aber damit dieser Eintrag auch ja genauso durchwachsen wird, wie das Haldern-Gefühl 2015, muss ich noch von zwei Konzerten erzählen: Family of the Year haben bei mir ein ähnliches Gefühl ausgelöst, wie der Umgang mit Clara. Eine selbstvergessene Leichtigkeit. Ich denke, das macht das Leben in L.A.. Ich habe davon in verschiedenen Interviews gelesen und in dem tollen Buch „Stille Tage in L.A.“ von Severin Winzenburg. Selbst wenn die Band singt „I live my life and don’t die, cause everything dies“, dann klingt das nicht wie ein verzweifeltes Verneinen unschöner Tatsachen, sondern wie sonnendurchflutete Gewissheit.

Und dann Laura Marling, mein Konzert des Festivals: Sie klingt als hätte sie sämtliche Häutungen, für die Menschen wie Bob Dylan oder David Bowie ein ganzes Künstlerleben brauchen, in ihren 25 Jahren durchgemacht. Sie ist keine Protagonistin im Folk-Revival mehr, sie spielt mit einem unvergleichlichen Ausdruck und einer unfassbaren Ausstrahlung in einem eigenen Universum. Sie klingt so weltweise wie Joni Mitchell in späteren Jahren. Sie spielt offene Stimmungen und offene Akkorde und hat den Mut, sie bis zum Ende eines Songs nicht aufzulösen. Es ist eben alles nicht so einfach: Werden, Vergehen, Altern… im Regen tanzen ohne sich zu erkälten. Aber einen Versuch ist es wert.