Sonntag, 29. Januar 2017

Skifahren mit Putin

Spielt Skifahren eine Rolle in Literatur oder Kunst? Die Frage schleicht sich ein, während mich im italienischen Alpen-Skiort Livigno ein Sessellift auf knapp 3000 Meter hochschaukelt. Aus Richtung des Seils, das den Sessel trägt, vernehme ich einen tiefen, unterschwelligen Brummton. Seit ich Lars von Triers „Melancholia“ gesehen habe, stelle ich mir vor, dass die Erddrehung so klingt. Aber wahrscheinlich wird er bloß von den Motoren übertragen. Die Aufhängung des Sessels knattert und knarzt. Wie gefährlich ist das hier eigentlich? Unten zischt eine Schneekanone und wirbelt feinen Schnee auf die Pisten, die aussehen wir frisch geharkt. Heute ist noch niemand darüber gefahren. Die erste Fahrt ist uns Teilnehmern der Pressereise vorbehalten, die morgens um 6.40 Uhr zum Sonnenaufgangs-Skifahren bereit standen.

Aber nicht ablenken lassen: Wie ist das nun mit dem Skifahren und der Kunst? Die Sonne, die sich noch tief hinter der Bergkette im Süden versteckt, malt zartrosa Töne auf den noch graublauen Himmel. Egal. Ich denke an das schwarz-weiße Foto des toten Robert Walser, der bei einem Spaziergang im Schnee einfach umgekippt ist: Herzinfarkt. Ein schöner Tod. Ich denke an Qui Shihuas Gemälde in der Ausstellung „Weltsichten“ im Bochumer Museum unter Tage: Auf den ersten Blick wirkt es komplett weiß, vielleicht ein wenig fleckig. Bei längerer Betrachtung wird aus den Flecken ein Stück Welt, eine Schneelandschaft. Vielleicht eine Pistenabfahrt aus der Perspektive des Skifahrers. Aber diese Assoziation ist wohl nur ein Werk meiner Phantasie. Ich denke an Roger Moore, der als James Bond auf Skiern vor irgendwelchen bewaffneten Schurken flüchtet. Die Szenen hat Willy Bogner gedreht und sie sind ein absoluter Tiefpunkt der Agentenfilmserie.

Vielleicht gibt es einfach nichts zu transformieren, transzendieren, überhöhen oder umzuformen am Skifahren. Es ist eine einfache und absolute Form des Hedonismus. In der schönsten Berglandschaft gleitet der Mensch als Beschenkter der Schöpfung malerische Hänge hinunter, die Muskeln arbeiten hart, das Gehirn auf Standby.

Mit dieser These erkläre ich mir, warum diese Pressereise so arm an Geschichten ist. Normalerweise werden wir Journalisten während des kompletten, kleinteiligen Programms ziemlich vollgetalkt. In Livigno nicht. Die paar Infos, die ich über den Ort und seine Geschichte habe (Livigno liegt im Talkessel, war bis in die 1950er-Jahre von der Außenwelt abgeschnitten, wurde von Napolen zur zollfreien Zone erklärt, damit er im Winter bewohnt bleibt - und zollfrei ist er bis heute), sind aus dem Internet zusammengeklaubt. In einem aus absoluter Langeweile entstandenen Gespräch mit einer der italienischen Guides erfahre ich noch, dass im Ortsteil Trepalle, der ein eigenes Dorf auf der Südseite eines der Livigno umschließenden Bergkämme bildet, einst der Autor von „Don Camillo und Peppone“ lebte. Die Figuren des Pfarrers und Bürgermeisters empfand er den dort lebenden Würdenträgern nach.

Was tun Journalisten, wenn ihnen keiner Geschichten erzählt? Sie sprechen über den Niedergang des Printjournalismus und das Internet. Auf dieser Reise sind übermäßig viele Blogger dabei. Zum Beispiel Angelique aus Berlin, die auf angeliquelini.de über Lifestyle, veganes Kochen und Reisen schreibt. Sie ist „individuell“ unterwegs, was bedeutet, dass sie nur am Programm unserer Gruppe teilnimmt, wenn sie Lust hat, und außerdem ihren Freund mitnehmen darf, der noch nicht mal fotografiert. 

Angelique hat 100.000 Seitenzugriffe und über 50.000 Follower auf Instagram. Die Seitenzugriffe sind eine schwammige und schwer überprüfbare Größe. Die Follower auf Instagram hingegen beeindruckend. Ich schaue mir ihre Posts an. Sie benutzt nicht die Instagram-Filter, sondern eine andere App, deren Namen ich leider vergessen habe, die den Bildern einen „individuellen Touch“ gibt. Individuell ist ein wichtiges Wort für Angelique. Es bedeutet offenbar auch, dass sie auf nahezu jedem Foto selbst zu sehen sein muss. Gerne im Bikini – ein Motiv, dass sich auf einer Winterreise natürlich nicht allzu oft anbietet. 

Ihr Foto von der Tour durch den Tiefschnee bekommt trotzdem in wenigen Stunden über 1000 Herzen. Die kleine und zierliche Angelique wirkt im noch unberührten, von keiner menschlichen Spur befleckten Schneefeld wie auf einem anderen Planeten. Im Text zum Bild hat sie Destination und Hersteller des Snowboard-Anzugs genannt und hinter jeden Satz eine Handvoll Emojis gestreut, die meisten haben etwas mit Herzchen zu tun. Auf jeden einzelnen der vielen Kommentare antwortet sie mit einer weiteren Handvoll. Angeblich kann Angelique vom Bloggen, von Instgram, Snapchat und was man sonst noch so zu tun hat in der digitalen Welt, leben. Ich lege mir gleich ein Instagram-Profil an und experimentiere mit den Foto-Filtern.

„Warum habe ich nur zwei Likes?“, fragt mich Roland beim Abendessen in einer abgelegenen Berghütte. -“Vielleicht hast du zu wenig Follower“, antworte ich und betrachte mir sein Foto bei Instagram. Es zeigt ihn, den 55-jährigen Münchener Korrespondenten einer bayrischen Tageszeitung mit geschulterten Skiern auf einem Gipfel oder erhöhten Aussichtspunkt bei einer Freeride-Tour. Er steht ein bisschen steif da - wie ein Jäger mit Gewehr vielleicht - und möglicherweise hat er auch den falschen Filter benutzt. Vielleicht ist er aber auch einfach zu alt. Ich habe für die megasüße Katze, die ich auf einem Holzvorsprung einer anderen Hütte vor einem wundervollen, verschneiten Berghang fotografiert habe, auch nur rund 20 Likes bekommen. Für eine Katze! Möglicherweise kann man das Alter von Menschen an der Anzahl ihrer Likes ablesen. Ab wann gibt es keine Likes mehr? Schon ab 60? Oder erst ab 70? Mit 80 dann wieder, weil es irgendwie cool ist, dass man so lange durchgehalten hat?

„Es ist doch seltsam“, sagt Roland. „Wir sind hier mit niederländischen, italienischen, österreichischen und russischen Journalisten unterwegs und sitzen doch nur mit unserer deutschen Gruppe zusammen.“ Er hat Recht und ich drehe mich um zu Margarete aus Moskau. Über den Umweg der schwedisch-dänischen Serie „Die Brücke“, die sie begeistert empfiehlt, landen wir schließlich bei Putin. Wo sonst? „2011 und vielleicht sogar 2012 war es noch möglich, kritisch über seine Politik zu berichten“, sagt sie. „Heute nicht mehr.“ -“Was passiert, wenn man es tut?“, will ich wissen. -“Du wirst gefeuert.“

Iris schaltet sich ein und fragt, ob Putin ein Diktator sei wie Erdogan. Ich finde es kühn, diese Frage einer Journalistin zu stellen, die für die Antwort ihren Job verlieren könnte. Aber Margarete fühlt sich hier offenbar frei. Sie glaubt, dass es irgendwann eine neue Revolution in Russland geben wird, wie vor hundert Jahren. Lange würden die Leute das nicht mehr mitmachen. Wie sie das Verhältnis von Putin zum neuen amerikanischen Präsidenten Donald Trump beurteilt, der vor seiner Wahl russlandfreundliche Töne anschlug? „Obama war sehr gemäßigt in seiner Art zu kommunizieren, diplomatisch und höflich. Das war das beste, was der Welt passieren konnte“, sagt sie. „Trump ist genau wie Putin ein Hooligan. Und es endet meistens nicht gut, wenn Hooligans von unterschiedlichen Vereinen aufeinandertreffen.“

Als die Sesselliftfahrt einfach nicht enden will, durchsuche ich mein Smartphone erst nach neuen Likes bei Instagram, dann nach Trump-News. Er will jetzt Flugverbotszonen in Syrien einrichten. Putin wird darüber nicht erfreut sein, heißt es. Ich schalte das Phone wieder aus. Mein Gehirn auch. Ich bin oben. Skifahren ist toll. Hui!