Freitag, 17. Februar 2017

Ein Hund stirbt

Eine meiner frühesten Erinnerungen ist diese: Ich gehe mit meiner Oma zum Zwinger im Garten ihres Hauses und da liegt regungslos Schäferhund Alf. Oma hat mich wahrscheinlich vom Kindergarten abgeholt und ich weiß nicht warum, aber wir gingen sofort zum Zwinger. Vielleicht weil Alf sonst immer gebellt hat, wenn jemand kam –  und jetzt nicht. „Er ist wohl tot“, sagte Oma etwas verwundert, aber im Grunde ähnlich regungslos wie Alf. 
„Warum?“, fragte ich. 
„Vielleicht hat ihn ein Nachbar vergiftet, weil er immer so viel gebellt hat.“

Ich weiß weder, ob ich damals ermessen konnte, was es bedeutet, vergiftet zu werden, noch, ob ich eine Vorstellung davon hatte, was es bedeutet, tot zu sein. Letzteres weiß ich bis heute nicht. Was ist der Unterschied zwischen dem lebendigen Hund meiner Schwester und dem toten? In beiden Zuständen liegt er auf der Rückbank des Wagens meiner Mutter, der früher meinem verstorbenen Opa gehörte, und es liegen nur wenige Minuten dazwischen. 

Der Hund meiner Schwester hieß Mykerinos, weil er Grieche war und sie ihn von einem Urlaub in Griechenland mitgebracht hatte. Gegen den Willen meiner Mutter. Diese Aktion hatte für einige Aufregung in unserer Familie gesorgt, die ich als einziger, der schon von zu Hause ausgezogen war, nur aus der Ferne mitbekommen hatte. Aber nun saß ich im Wohnzimmer unseres Elternhauses und spielte lustlos Playstation mit einer riesen Wut im Bauch. Ich wartete auf meine Mutter, die es versäumt hatte, wichtige Unterlagen für meinen Bafög-Antrag bereitzustellen. Das Amt hatte mir den Geldhahn zugedreht. Ein existenzielles Problem. Die konnte was erleben, wenn sie nach Hause kam! Doch als die Tür aufging, vernahm ich neben ihren Schritten auch ein Tapsen. Das war Mykerinos, noch ganz klein, fast ein Welpe – mit diesem wunderschönen bernsteinfarbenen Fell und den bernsteinfarbenen Augen und im Vergleich zum restlichen Körper riesigen Tatzen. Mit seiner typischen Unbekümmertheit, die er sich quasi bis zum Lebensende erhalten hat, kam er erstmal zu mir und ich konnte nicht anders als ihn zu streicheln. Die Wut: verflogen. Das Bafög: egal.

Noch vor ein paar Monaten hat Mykerinos einen ziemlichen coolen Move hingelegt: Er war im Alter noch anhänglicher geworden und meine Schwester für ein paar Wochen in den Urlaub gefahren. Schon nach drei Tagen hielt er es bei meiner Mutter nicht mehr aus und nutzte einen kurzen Moment, in dem die Haustür offen stand, um zu flüchten. Obwohl eigentlich alle der Meinung waren, dass man kaum noch mit ihm spazieren gehen könne, weil er sich nicht mehr bewegen mochte. Eine ausgedehnte Suche in der Umgebung ergab: nichts. Aber dann erreichte meinen Bruder über Facebook oder Whatsapp die Nachricht, dass ein damen- oder herrenloser bernsteinfarbener Hund in der Straßenbahn von Bochum-Linden in Richtung Haus Weitmar gesichtet worden sei. Mykerinos war alleine bis zur Hauptstraße gelaufen, hatte auf die Straßenbahn gewartet und war eingestiegen – in Richtung der Wohnung meiner Schwester! Ich finde diese Geschichte bis heute unglaublich.

Naja, und jetzt liegt er da auf der Rückbank des Opel Astra und tut nicht viel mehr als schwer zu Atmen. Wie mein Opa zum Ende seines Lebens. Der Wagen steht in einer Art Lagerhalle mit allerlei merkwürdigen Dingen – Waschmaschinen, Mähdrescher, Säcke mit Blumenerde. Es ist die Lagerhalle eines Hattinger Tierarztes. Meine Mutter und meine Schwester haben Mykerinos hier her gebracht, weil er sich auf einmal gar nicht mehr bewegt hat – und vor allem, weil seine schönen bernsteinfarbenen Augen so tief eingefallen waren, dass man sie kaum noch sehen konnte. Sie waren praktisch weg. Ich wollte das weder sehen, noch es mir vorstellen. So etwas passierte doch nur in Horrorfilmen. „Der Arzt hatte schon die Spritze zum Einschläfern in der Hand“, schluchzte meine Schwester am Telefon, „er sagt, die Natur habe das mit den Augen so eingerichtet.“ Ich fragte mich, wozu?

Für den Tierarzt, der tatsächlich Wolf heißt, ist Mykerinos „das Tier“. Herr Wolf erklärt uns, dass er aus guten Grund nicht Humanmedizin studiert habe, weil er nicht zu entscheiden vermöge, wann ein Menschenleben noch erhaltenswert sei und wann nicht. Bei „dem Tier“ hingegen ist es für ihn nicht fraglich: „Ich kenne den Hund jetzt so lange. Und wenn ich sehe, dass er sich nicht mehr bewegen kann und mir die Augen anschaue, dann muss ich sagen: Es gibt nur eine Entscheidung.“ Manche Hundebesitzer würden ihre Tiere noch ein paar Monate pflegen, sie „vorne füttern und hinten pampern“, aber da müsse man zu einem anderen Arzt gehen, wenn man das wolle.

In Herrn Wolfs Augen sind wir wahrscheinlich eine groteske Gesellschaft: Fast die komplette Familie ist angereist, um „dem Tier“ die letzte Ehre zu erweisen. Der Freund meiner Schwester kam aus lauter Verzweiflung extra mit dem Taxi aus Essen, um ihn noch ein letztes Mal zu streicheln. Aber umso länger ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass diese Trauergesellschaft in Ordnung geht. „Das Tier“ war eben Mykerinos, ein liebenswerter Typ mit Charakter, ein treuer Freund, ein wichtiger Teil unserer Familie. Jeder hatte seine Geschichte mit ihm. Und meine Schwester hielt mit allen auch deshalb so viel Kontakt, weil sie ständig Hilfe in der Hundebetreuung brauchte.

Wenn Mykerinos dabei war, konnte das auf sehr angenehme Art die Perspektive ändern. Zum Beispiel Weihnachten, wenn alle angespannt bis in die Haarspitzen auf die nächste Entladung negativer Energie warteten. Wenn meine Schwester meine Mutter angiftete, weil sie das Salat-Dressing falsch anrührte oder ich mich darüber aufregte, dass meine Mutter wieder diesen nervtötenden Ton drauf hatte, dann half manchmal ein Blick ins Wohnzimmer. Da lag Mykerinos auf dem türkisen Teppich und zog eine bernsteinfarbene Augenbraue hoch. Als ob er dachte: „Ihr spinnt doch alle.“ Dann legte man sich am besten zu ihm und nahm dieselbe Haltung ein.

Mein Opa erzählte bis ans Lebensende von seinem Schäferhund Alf. Ein Foto von ihm stand immer in seinem Arbeitszimmer. Obwohl Alf ihn nur drei oder vier Jahre seines 83-jährigen Lebens begleitete, war er für ihn der Inbegriff seiner glücklichsten Zeit. Mein Opa war gut zehn Jahre nach dem Krieg aus Ostpreußen nach Westdeutschland gezogen, hatte eine Arbeit gefunden und mit seinen eigenen Händen nicht nur Geld verdient, sondern auch ein Haus für seine Frau, seine Tochter, sich selbst und seine griechischen Untermieter-Freunde gebaut. Er hatte eine Garage mit einem gebrauchten, aber gut erhaltenen Mercedes, einen Hobbykeller, einen Balkon, eine enorm große Terrasse und ein noch enormere Rasenfläche. Aber das Glück war erst perfekt, als Alf da war. Alf war verspielt und trotzdem schlau, wachsam und trotzdem so lieb, dass man als Kind auf seinem Rücken reiten konnte. Alf überdeckte mit seiner ausgleichenden Art vielleicht sogar die Eheprobleme meiner Großeltern – aber möglicherweise bürde ich ihm da jetzt retrospektiv auch ein wenig zu viel auf.

Jetzt liegt auf jeden Fall Mykerinos auf der Rückbank des letzten Wagens, den sich mein Großvater in seinem Leben anschaffte, und dreht sich ein letztes Mal um. Ich bin sicher, dass er mich dabei aus mindestens einem bernsteinfarbenen Auge anblickt. Die sind also gar nicht weg! Und bewegen kann er sich auch noch! Ich überlege, ob ich protestieren soll als Tierarzt Wolf ihm eine weiße Flüssigkeit verabreicht. Ich stehe zwar in einiger Entfernung, aber ich meine zu verstehen, dass es sich dabei um Propofol handelt. Ein Narkosemittel, das entspannt und euphorisiert. Michael Jackson hat an seinem Lebensende wohl etwas zu viel davon genommen. Nach dem Propofol schließt Herr Wolf Mykerinos eine Kanüle mit einer durchsichtigen Flüssigkeit an eine seiner Tatzen an, die jetzt nicht mehr groß wirken, sondern eher dünn, schlaff, abgekämpft. Ich denke erst an die USA, dann an die Schweiz.

Ich blicke ganz genau und aus nächster Nähe auf Mykerinos’ immer noch wunderschönes, glänzendes Fell. Bewegt es sich nicht noch? Hebt und senkt es sich nicht durch den Atmen? Nein, Herr Wolf hat ihn ja mit dem Stethoskop abgehört und gesagt: „Ja, es ist jetzt soweit.“

Aber wie weit ist es jetzt? Was ist jetzt? Ich erkläre es mir so ähnlich, wie Karl-Ove Knausgard den Tod in seinem Buch „Sterben“ definiert: Der atmende Mykerinos auf der Rückbank war ein Mitglied der Lebenden, er war uns Umsitzenden und Umstehenden ähnlich, ein Teil unserer Familie, ein wichtiger sogar. Der Mykerinos, bei dem sich nichts mehr hebt und senkt, dessen bernsteinfarbenes Auge – und es ist doch da! – halboffen steht und sich nicht mehr von selbst schließen wird, ist ein Teil der uns umgebenden Dinge. Er ist wie die Rückbank oder der Mährdrescher oder die Waschmaschine. Wie der Sack mit Blumenerde oder wie ein Foto, das an ihn erinnert. Unsere Tränen sind berechtigt.