Sonntag, 27. Oktober 2019

Über den Wolken

Ich habe wirklich keine Ahnung von Jacques Brel. Den Song „Eventuell Jacques Brel“ habe ich wegen eines Thekengesprächs vor langer Zeit geschrieben, wegen des Binnenreims im Satzfragment, das in diesem Gespräch fiel und das wahrscheinlich bloß Ausdruck dieser Ahnungslosigkeit war: „Hat nicht schonmal jemand einen Song gemacht über diese besondere Nachtstimmung am Tresen?“ -„Ich weiß nicht… Eventuell Jacques Brel?“ Jetzt sitze ich beim Frühstück vor meiner bescheidenen Plattensammlung und ziehe eine raus: Brel. Vier Buchstaben auf einem blauen Himmel mit Wolken, schwereren Wolken als auf dem Cover von The Plastic Ono Bands „Live Peace in Toronto“ oder Flowerpornoes „Umsonst und Draußen“. Stimmt, die habe ich mal auf einem Flohmarkt gekauft und vielleicht ein halbes Mal aufgelegt. Jetzt läuft sie und auf dem Smartphone Wikipedia: „Brel“ ist von 1977, heißt auch „Les Marquises“ und ist sein letztes Album. Wie? Der französische Nationalheld ist 1978 schon gestorben? Vor über 40 Jahren? Habe ich nicht mal so ein Biopic über ihn gesehen von diesem Comiczeichner und da starb er erst in den 1990ern? Ach nee, das war „Gainsbourg“ von Joann Sfar. Peinlich. Jacques Brel jedenfalls wusste seit 1975, dass er schwer krank war. Da hatte er einen Zusammenbruch, Krebsdiagnose, in Brüssel wurde ein Teil seiner Lunge entfernt und die Aussicht auf eine lange Zukunft verstellt. Brel segelte um die Welt, wurde wie vor ihm Gaugin auf Hiva Oa, einer der Marquesas-Inseln mitten in Polynesien im Pazifik, heimisch, machte einen Pilotenschein. Die Welt erleben per Schiff und per Flugzeug, Eindrücke einsaugen ehe sie für immer verschwinden. Noch einmal in Poesie verwandeln, in kristallklare Sprache, mit Dringlichkeit singen, nur zwei Lieder pro Tag im Studio, mehr schafft er nicht mehr, aus zwölf wird das Album, das die Plattenfirma bis zum Tag seiner Veröffentlichung geheim hält, sich dann aber millionenfach verkauft, dessen letztes Chanson von den Marquesas handelt, französisch „Les Marquises“. Die Ärzte haben ihm eigentlich davon abgeraten, dort zu leben. Das tropische Klima sei nicht gut für die Lunge. Und jetzt singt er: Das Herz ist Reisender. Die Zukunft zufällig. […] Weißt du was? Jammern ist nicht angebracht – auf den Marquesas.

Wie lebt man in der Gewissheit, dass der Tod wahrscheinlich schneller naht als vor kurzem noch angenommen? Ich habe mal einen getroffen, der hat sich zugesoffen wie nichts Gutes und seinen Körper durch diese Welt bewegt wie Super Mario im Unverwundbarkeitsmodus. Das ist eine Möglichkeit. Tim zerteilt einen Apfel mit dem Messer und alle im Raum bekommen ein Stück. Und noch eins. „Möchtest du noch?“, fragt er jede und jeden in der verrauchten Küche und hält die Hand mit dem Stück frischen Apfel hin, letzte Nacht gepflückt im Schrebergarten nebenan, von der Schnittkante fällt ein süßsaurer Tropfen zu Boden. Die Leute hier werden die Nacht durch rauchen, kiffen, trinken, essen, labern. Tim wird irgendwann ins Bett gehen und morgen früh arbeiten, dann zur Dialyse. Er finanziert die große Wohnung, die sich über eine ganze Etage eines schönen Stadthauses erstreckt. Lebt er für sich oder für andere? Oder ist das dasselbe? Er öffnet die Tür mal um mal, wenn die Klingel geht. Manchmal kommen 30 Leute, hängen auf Stühlen, liegen auf Matratzen, konsumieren, musizieren, reden, kochen, drehen die Anlage lauter. Tim liegt auf dem Teppich. Atmet er noch? Er steht auf und jongliert mit drei leuchtenden Bällen. Die hat er sich mal gegönnt. Ansonsten gönnt er sich nicht viel. Doch, den zweiten Flug nach Kairo, nachdem er den ersten knapp verpasst hat. Schwere Wolken verhängen die Aussicht auf den blauen Himmel. Von oben verstellen sie die Sicht auf die Erde und was da so los ist. Aber von hier aus sehen sie so leicht aus.

Freitag, 17. Mai 2019

Terezín

Terezín, Theresienstadt, Stadt genannte Festung. Die dünnen Wasserstrahlen, die die Pumpen des Brunnens auf dem großen Platz in die Luft schießen, können keine Feier des Lebens vortäuschen – über der Stadt hängt eine Glocke und die dumpfe Atmosphäre des tödlichen Schreckens kann nicht abziehen. So fühle ich jedenfalls gleich nach der Ankunft und ich weiß nicht, ob ich es gefühlt hätte, wenn ich nicht wüsste, wo ich mich befinde und was hier geschehen ist. Zwischen 1500 und 2000 Menschen leben noch in der Stadt, die Militärkaserne, die Ghetto, die Gefängnis war, erzählt unser Tourguide. Gebaut wurde sie für 10.000, die Nazis pferchten ungefähr fünf- bis sechsmal so viele Menschen hinein, als sie sie im Zweiten Weltkrieg zum jüdischen Ghetto machten. Da drüben liegt ein Mann hinter der Lehne einer Bank auf dem Rasen und ruft unverständliche Laute über den Platz. Ein Obdachloser? Ist er hingefallen? Nein, er sieht aus, als läge er sich zum Schlafen in die paar Sonnenstrahlen, die sich durch Lücken in der Wolkendecke schummeln. Er hat die Schuhe ausgezogen.

Ich will nicht an der Führung durch Theresienstadt teilnehmen, das Grauen in meinem Kopf ist so schon groß genug, ein Unwohlsein im ganzen Körper. Ich möchte es hinausrufen, mich dazu legen. Tränen kriechen den Hals hoch, wollen sich nicht schlucken lassen. Ich denke an die Freundin, die mich zum Hannes-Wader-Konzert begleitet hat, Tränen liefen ihr über die Wangen, als er „Die Moorsoldaten“ anstimmte, das Lied der Häftlinge des KZs Börgermoor. Ich habe mich gefragt, warum nicht viel öfter Menschen weinen, wenn es um diesen Teil der deutschen, unserer Geschichte geht. Ich glaube, weil nur wenige ermessen, dass nicht Monster diese Taten begangen haben, sondern Menschen, unsere Vorfahren, dass derart schreckliche Verbrechen in bestimmten historischen Konstellationen im Bereich des Möglichen liegen.

Susanna geht auch nicht mit auf die Führung. Sie soll auf die Fahrräder aufpassen, aber die hat sie schon sicher weggeschlossen. Wir gehen langsam über den Platz, an dem Mann vorbei, der jetzt ganz ruhig und regungslos hinter der Bank im Gras liegt. „Is he alive?“, fragt Susanna, und ich gehe näher zu ihm hin. Sein Gesicht ist rot, seine Finger ganz blass und dürr, unter den Nägeln ein Schmutzrand. Ich gehe noch näher auf ihn zu, rieche Alkohol und glaube, regelmäßige Bewegungen in seinem roten Barthaar zu erkennen. „I think he’s breathing“, sage ich, und wir entfernen uns wieder. Was hätten wir tun können? Was könnten wir jetzt tun? Die Frage ist wie vor 80 Jahren aktuell.

Susanna fragt, ob ich jetzt den Räucherkäse kaufen möchte, nach dem ich schon seit gestern suche. Da wäre ein Laden. Nein, nicht hier. „It’s a normal shop now“, sagt sie. – „Yes I know.“ Aber es wäre mir peinlich, wenn die anderen sähen, dass ich während ihrer Führung durch Terezín, während ihrem Rundgang durch das Ghetto-Museum Käse gekauft habe.

Zwischen alten Backsteinmauern, die wohl zu den Verteidigungsringen der alten Festungsanlage gehören, sind Ziegen eingepfercht. Sie meckern von weitem hörbar. Früher war es hier sicher still. Kein Wort drang durch die Mauern und Tore, leise Gespräche der Schicksalsgenossen ohne Aufsehen zu erregen – oder Aufseher? Einige Ziegen fressen lustlos das trockene Stroh, auf dem sie herumlaufen oder –liegen. Wir sammeln bedächtig frischen Löwenzahn und Sauerampfer von der grünen Wiese vor ihrem Tor, halten es ihnen durch die Zwischenräume hin. Es ist schwierig, auch die kleinen zu füttern, ein Ziegenbock stößt alle mit den Hörnern fort. Doch es ist möglich, wird zum Sport: den Benachteiligten helfen. Ein kurzer Trost. Ein Blick nach oben. Vor der bröckelnden Fassade und den zugestellten und damit blinden Fenstern einer hohen Kasernenfassade steht ein Lindenbaum. Ich möchte zu Susanna sagen: „Der stand vielleicht schon vor 80 Jahren hier, hat alles miterlebt.“ Ein Gespräch über Bäume, das kein Schweigen über die an diesem Ort verübten Untaten einschließt.

Hat die Linde sich im Wind gewiegt als Menschen ankamen, sich zu Tode schufteten oder abtransportiert wurden? Sind die Vögel damals genauso wild hin und her geflattert, haben genauso vielstimmig gesungen?

Gestern Nacht bin ich mit Susanna durch Litowice spaziert, eine Stadt wie ein Freilichtmuseum, überall schönste gedämpfte Lichtstimmungen, Aussichtspunkte über die Kirchen und Schlösser und böhmische Berge. Wir spazierten wie Jesse und Celine in „Before Sunrise“ durch Wien spazieren, suchten immer wieder ein neues Ziel. An einer kleinen Mauer mit Blick auf das darunter liegende Haus reicher Leute mit Swimmingpool spielte ich ihr James Taylors Version von „Oh Susanna“ vor und wusste gar nicht, ob ich das als romantischen Moment meinte. Als James Taylor fertig war, sagte sie mit einer Leichtigkeit: „Okay, now we can go home.“ Jeder in sein Hotelzimmer.

Mit derselben Leichtigkeit schlendert sie jetzt durch den Second-Hand-Laden eines grimmigen Alten mit vergilbtem weißem Bart. Der Laden ist von oben bis unten vollgestellt mit Dingen, die früher Haushalte gefüllt haben: Teller, Tassen, Bilder, Fotos, auch Waffen, Gasmasken. Ich möchte nicht darüber nachdenken, wem diese Dinge einmal gehört haben, möchte wieder raus, ganz raus, hinter den äußersten Schutzwall. Ich bin dankbar, dass ich es heute tun kann. Auf ein Fahrrad steigen und wegradeln, in die nächste Stadt, zum nächsten Bahnhof. Gleich, in einer halben Stunde.

Bis dahin gehen wir in ein Café und reden nicht mehr. Eine Frau bringt mir lächelnd eine heiße Schokolade, die eine Konsistenz hat wie ein Pudding. Ich frage mich: Warum leben hier Menschen? Wie können sie das? Sollte ein Ort mit dieser Geschichte versuchen, Stadt zu sein? Sollte er nicht lieber als eine Art Freilichtmuseum geführt werden, als lebendiges Mahnmal? Und jeder der hier ist wird bezahlt vom deutschen Staat.

Susanna zeigt mir etwas aus ihrer Tasche. Sie hat bei dem Bärtigen eine kleine Engelsfigur gekauft. „My mother loves them.“ Aber dieser Engel hat vielleicht einmal nicht aufgepasst.

Montag, 11. März 2019

Wasserball und Kommunismus


Abwesend wirkende Einlassmenschen, drückende Wärme, schäbige, angemackte Fliesen, Chlorgeruch – die ganze Kindheit ist wieder da, wenn ich ein Hallenbad betrete. Die Scham über meine Badehose mit Seepferdchen-Aufnäher, obwohl alle um mich herum kurze Zeit später schon mindestens den Freischwimmer geschafft hatten. Die Unverständnis meiner Mutter als ich eine neue Badehose forderte, obwohl sie doch gerade erst den Aufnäher auf die alte gebracht hatte. Generell diese latente Scham in der kalten Gruppendusche des alten Realschulschwimmbads (obwohl ich doch in die Grundschule ging!) mit den schmalen Fenstern ganz oben an der Wand in Deckennähe, zu schmal, um hinaus zu sehen, sich hinaus zu sehnen. Den Tipp des strengen Lehrers Herr Soest, sich am Ende kalt abzuduschen, weil das die Hautporen verschließe, befolgte ich nie. Er brachte mich aber zu einem neuen Nachdenken über die Funktionen des eigenen Körpers.

Diesmal bleibe ich angezogen. Ich widerlege meine Selbstannahme, mich ein für allemal nicht mehr für Sport zu interessieren. Diese Selbstannahme ist über die Jahre gewachsen, obwohl ich doch 1995 schon vor 20.000 Fans als offizielles Bengalo-Feuerwerk tragendes Kind im VfL-Bochum-Stadion auflief. Mein Vater hatte damals wahrscheinlich die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass aus mir noch ein normaler Junge wird. Die Reise zur verfrühten Meisterschaft von Borussia Dortmund im Spiel gegen den TSV 1860 München in München war dann aber doch eher merkwürdig.

Jetzt geht es nicht um Fußball, sondern um Wasserball. Das ist mir sympathisch, weil einer meiner Lieblingsregisseure, Nanni Moretti, einen Film gemacht hat, der „Wasserball und Kommunismus“ heißt. Um ihn endlich einmal anzuschauen, habe ich gerade sogar meine Nerdfähigkeiten reaktiviert und mich in die Tiefen des Torrent-Netzwerks gearbeitet. Es gibt ihn nur auf Italienisch mit englischen Untertiteln und auch nur bei einem Seed und einem Peer. Das wird dauern.

OK. Also Nerdskills und Sportinteresse. Das ist alles wieder da, weil meine Freundin C. oft mit voller Emphase von ihrer Liebe zum Wasserball erzählt. Also, es ist vielleicht nicht nur eine reine, ungebrochene Liebe, aber sie bleibt am Ball. Sie hat diesen Sport einmal als einen (vielleicht als den einzigen) Sinnspender bezeichnet. Das ist etwas. Die Frage nach dem Sinn hat mich zuletzt fast in die Verzweiflung getrieben, um das mindeste Wort zu benutzen, das den Zustand umschreiben kann, deshalb dachte ich: Wow.

Und auch jetzt, hier im Unibad: Wow. C. hatte noch versucht, mich vom Besuch des Spiels gegen Hannover abzuhalten. Sie hatte gesagt: „Wir haben die Quali verpasst, es geht um nichts mehr.“ Aber soweit ich mich erinnern kann, geht es beim Sport doch immer um etwas, mindestens um die Probe für ein wieder wichtiges Spiel, das immer irgendwann ansteht. Und so war es auch. Während ich angezogen, bloß mit bloßen Füßen durch die Halle schleiche, tobt im Becken schon das Spiel und auf der kleinen Zuschauer-Tribüne ein kleiner Pulk aus mitgereisten und heimischen Fans.

Gerade, weil ich von C. ganz anders instruiert wurde, empfinde ich die Atmosphäre als extrem aufgeheizt. Schiedsrichter auf jeder Seite laufen auf und ab, pfeifen andauernd schrill, machen energische Handzeichen, ein Kommentator spricht mit lauter Stimme in ein Mikrofon, immer wieder ertönt ein Alarmsignal und das erste Mal denke ich: Scheiße, das Dach bricht ein wegen des Orkans draußen. Aber es hat wohl irgendwas mit der speziellen Aufteilung der Spielzeit zu tun. Es gibt nicht nur vier Viertel, sondern auch Angriffszeiten, Time-Outs und Pausen. Ständig rasen neue Sekunden über die Anzeige. Ich bleibe ständig und immer wieder neu im Hier und Jetzt. Ein Zustand, den ich mir bei der Meditation oft mehr wünsche als erreiche. Mehr Sinn geht vielleicht gar nicht.

Ich frage mich, ob die Spielerinnen die großen Badekappen mit Ohrenschutz vor allem deshalb tragen, um die extreme Geräuschkulisse zu ertragen, oder ob die Geräuschkulisse so extrem ist, um durch die großen Badekappen mit Ohrenschutz zu den Spielerinnen durchzudringen. Die Schiedsrichter jedenfalls sind offenbar schon hörgeschädigt, denn um ihr letztes Time-Out zu bekommen, muss der gesamte, mittlerweile stehende Hannoveraner Fanblock wütend und entrüstet „Time! Out!“ schreien. Dass keine Bierdose fliegt, liegt nur daran, dass hier niemand Bier trinkt. Wasserball ist ein sauberer Sport, höchstens mit etwas Chlor versetzt.

Bochum führt, doch Hannover holt auf, schießt das Unentschieden, obwohl man hier doch wirft. Manchmal schreit eine Spielerin plötzlich auf und ich frage mich, ob es spezielle Kameras gibt – oder ob Treten, Kneifen und andere Gemeinheiten unter Wasser meist unentdeckt bleiben. Verzweifelte Gesichter blicken in Richtung Trainer: Was hat er gesagt? Ich soll auf die drei? Nein, doch sie? Ein Typ mit Glatze, Bart und hochrotem Kopf explodiert in skurriler Regelmäßigkeit und brüllt heiser Sätze wie: „Das kann doch nicht sein! Das musst du doch sehen!“, und meint wahrscheinlich den Schiedsrichter. Ich frage mich, ob er der Typ ist, der Zuhause auch seine Kinder anschreit oder Katzenbabys verprügelt, oder ob er total reflektiert alle Aggressionen beim Sport ablässt und in allen anderen Zusammenhängen Ruhe und Sanftmut bewahrt.

Nach dem Spiel treffe ich ihn vor dem Eingang. Dem Orkan einen Schritt voraus hat er sich die Zigarette bereits eine Tür vor der letzten Schleusenstufe angezündet. Ich frage ihn, ob C. schon gegangen sei. „C. hat heute vielleicht nicht die meisten Tore geschossen, aber sehr gut gespielt“, sagt er. Und redet einfach weiter: „Du hast dich sicher gefragt, warum sie so oft ihren Arm gehoben und damit herum gewedelt hat.“ Pause. Ich weiß nicht, ob ich mich das gefragt habe. Eigentlich war mir recht klar, dass „Das war, um den Gegner von einem guten Passspiel abzuhalten – und das hat wunderbar geklappt.“ Ich sage: „Aha.“, und jetzt weiß ich, wie sich das anfühlt, wenn man als Mann in einen Fall von Mansplaining gerät. Wir können manchmal richtig nervig sein.

C. erklärt ihr Armwedeln anders: „Anstatt selbst kreativ zu werden, habe ich die anderen daran gehindert.“ Ich sage: „Ihr habt gewonnen, das ist doch wunderbar!“ Sie sagt: „Wir hätten gestern gewinnen müssen, heute ging es um nichts“, und hat Tränen in den Augen. Der Trainer kommt auf mich zu, schüttelt mir die Hand: „Danke für die Unterstützung!“ Offenbar fällt ein neues Gesicht hier gleich auf. Ich denke, man sollte diese Mannschaft in Zukunft mehr unterstützen. Aber was hat das jetzt mit Kommunismus zu tun? Hallo Torrent-Download? Restzeit 3d14h? Ohje.

Dienstag, 19. Februar 2019

Oh Bort


Ich denke zuallererst an meinen Opa, wenn ich jetzt nach siebeneinhalb Jahren meinen Skoda Fabia weggebe. Wenn ich den steilen Waldweg hinunterkam und auf die Einfahrt mit dem klapprigen Tor zu, dann stand er entweder schon draußen oder winkte im Fenster, „Warte, ich komm rrrunter!“, und inspizierte erstmal den Wagen, dann mich. Mit kritischem Blick lief er einmal herum als würde er nach neuen Dellen oder Kratzern suchen, die ihm beweisen könnten, dass ich den Weg nach Bergneustadt mal wieder zu schnell zurückgelegt habe. „Besser nicht mehr wie 140!“, gab er mir mit auf den Weg, als er mir mein erstes Auto schenkte, einen weißen Golf II mit vier Gängen und 75 PS, den er für 1000 Mark meinem Stiefvater abgekauft hatte. In Opas Kopf wog der Status- und Komfortgewinn eines Autos ganz klar die Gefahr auf, in die er mein 18-jähriges Leben und das der anderen Verkehrsteilnehmer mit diesem Geschenk brachte. Ein Auto, das musste schon sein, das markierte deutlich, dass man es geschafft hatte: sich aus den Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit in ein annehmbares Leben zu navigieren. Noch in den 1970er-Jahren hatte sich mein Opa den Traum eines eigenen Mercedes Benz erfüllt, hellblau und natürlich gebraucht, und ich weiß nicht, ob ich mich selbst an die entsetzten Schreie meiner Eltern und Großeltern erinnere, als ich als Dreijähriger hinterm Steuer die Handbremse löste und den großen Garten hinunter auf den Waldrand zurollte, oder ob ihre lebhaften Erzählungen von diesem Ereignis zu eigenen Bildern in meinem Kopf geworden sind.
Nach seinem obligatorischen Rundgang machte Opa oft noch die Motorhaube auf, kontrollierte Öl- und Batteriewasser-Stand, goss Scheibenwaschanlagenwasser nach oder drehte sogar mal eine Zündkerze raus: „Ist ein bisschen schwarz, musst du vielleicht bald wechseln.“ Ich weiß, welch großes Glücksgefühl ich empfand, als ich zum ersten Mal mit dem dunkelblauen Skoda Fabia ankam, 2011 im Herbst wahrscheinlich. Er war sechs Jahre alt, hatte rund 70.000 Kilometer gelaufen, ich hatte ihn in Bochum bei einem richtigen Händler gekauft und Opa sagte nach seinem Rundgang ungläubig: „Da hast du für unter 5000 Euro einen fast neuen Wagen bekommen. Gut gemacht.“ Wenn ich jemandem erklären müsste, wie sich Stolz anfühlt, würde ich aus dieser Erinnerung schöpfen.

Ich denke an die Szene in der Serie „Die Simpsons“ als Bart in einem Freizeitpark ein Schild mit seinem Namen kaufen will, aber es gibt nur noch Schilder mit dem Namen Bort. „Bort? Wer heißt denn bitte Bort?“, fragt er genervt und ungläubig seine Mutter Marge und auf einmal rufen mehrere andere Mütter ihre Kinder: „Bort, komm jetzt!“ Als ich mir 2011 spontan eine Buchstabenkombination für das Nummernschild meines Skoda Fabia einfallen lassen musste, kam mir diese Szene in den Sinn. Auf keinen Fall wollte ich einen „BO-ND“ oder einen „BO-OM“, lieber einen „BO-BO“ wegen Mr. Burns Teddy Bobo, aber noch besser war „BO-RT“, dazu die Zahl 1900, weil ich damit einen ironischen Kommentar abgeben konnte zur skurrilen Eigenart anderer Menschen, ihr Geburtsjahr auf dem Nummernschild zu verewigen und weil ich die Literatur aus dem 19. Jahrhundert doch so liebte. Mein neuer Wagen wird ein „BO-LO 1983“ wegen der 1983 erschienenen anarchistischen Gesellschaftsutopie „bolo’bolo“ des Autors P.M., den ich vor zwei Jahren in einer Wohngenossenschaft in Zürich – der Art Bolo, die in unserer Realität möglich ist – traf. Dieses Nummernschild ist meines Wissens nur in Bochum möglich und es wird hier wahrscheinlich niemand verstehen. Großartig.

Ich denke an das Festival Rundlauf Bochum, das ich im Jahr 2013 zum ersten und vorletzten Mal mit organisierte. Wir brachten damals einen ganzen Stadtteil in Bewegung, machten ehrenamtlich kostenloses Kultur-Programm auf Plätzen, in leeren Ladenlokalen, Wohnungen und in einem Weltkriegs-Bunker, den seit Jahren oder Jahrzehnten kaum ein Mensch mehr betreten hatte. Wir warfen uns mit diesem Festival ins kalte Wasser, ich selbst zumindest hatte noch nie zuvor etwas Vergleichbares getan und schleppte zwei oder drei Monate das Gefühl einer kompletten Überforderung mit mir herum, dessen Manifestation das laute, metallische Knatschen von Borts Stoßdämpfern beim Fahren über die Bremsschwellen in Märzens Eiseskälte im Wohngebiet der Bochumer Speckschweiz wurde. Noch heute klebt unser wunderbar kryptischer, zartrosa Werbe-Aufkleber auf der Heckscheibe, der stilisiert das Gebiet des Rundlaufs zeigt ohne schriftlichen Hinweis auf das Festival. Ein echtes Underground-Ereignis, noch heute geraten Menschen ins Schwärmen, wenn sie sich erinnern, Bort war dabei und ich irgendwie auch.

Ich denke an die kurvige Strecke durch das spektakuläre Tal Glen Coe in den schottischen Highlands. Mein Freund Sebastian bat mich ständig rechts, ach nein, links ran zu fahren, um noch ein Foto zu machen. Und noch eins. „Schau mal, der Himmel! Fast gelb! Und diese Felsen im Wasser und die Hänge und da sind Schafe und wie die Straße verläuft!“ Bort war dabei als ich das erste Mal linksrum durch einen Kreisverkehr fuhr, und als Sebastian schrie: „Da kommt uns einer entgegen!“, oder als er auf Landstraßen schauen musste, ob wir jetzt überholen können, weil man vom Steuer auf der linken Seite aus ja nur die Vegetation am Straßenrand sehen konnte. Bort wartete auf dem Parkplatz bei den Bussen als wir den Duke of Argyll im Inveraray Castle besuchten (wir wussten nicht, was wir ihn fragen sollten), und an der Destillerie Glengoyne die Truppe der Whiskey-Bar „Highlander“ aus Alkmar wieder trafen, deren Bulli auf der Fähre von Amsterdam nach Newcastle gleich neben ihm stand. Bis zu seinem letzten Tag klemmte der Zettel mit der handgekritzelten Wegbeschreibung zum Restaurant im Moor an irgendeinem Loch in der Nähe des Grabs des schottischen Volkshelden Rob Roy in seiner Beifahrertür, wo es so leckeren Käse auf Schieferbrettchen gab. Auf der Hutablage liegen, wie sich das gehört, zwei Strohhüte: Einen hat mir Christiane in Holland geschenkt, weil meine schütteren Haare den Kopf im Sommer 2018 nicht mehr genügend vor Sonne schützten, einen bekam ich von der Queen of Loveland, Colorado, auf unserem Roadtrip durch Colorado 2015. Damals hatten wir einen Leihwagen und der Hut war eine Art Souvenir und Entschuldigung für Bort – über den Ozean, das ist zu weit für dich, mein Lieber.

Ich denke an Karl Ove Knausgard, der in seinen kurzen Essay-artigen Texten im Band „Im Herbst“ oder „Im Winter“ vom individuellen Autoverkehr als Erbsünde spricht, mit der wir umgehen, zu der wir uns irgendwie verhalten müssen. Ich habe immer gedacht: Man muss ein Auto haben als freier Journalist im Rhein/Ruhrgebiet, weil der öffentliche Nahverkehr so schlecht ausgebaut ist und man gerade abends einfach nicht mehr überall wegkommt. Mittlerweile denke ich: Man braucht vielleicht tatsächlich manchmal ein Auto, aber vieles geht auch ohne und im Zug hat man die Hände frei, kann lesen oder schreiben und Musik über Kopfhörer hören. Ich las einmal von einem Mann, der nach einer Nieren-OP an schwersten Panikattacken litt und nur auf stundenlangen Autofahrten etwas Linderung erfuhr. Ich konnte mich selbst in ihm erkennen, habe mein Freiheitsgefühl immer auch an den Besitz eines Autos gekoppelt, aber ich erinnere mich auch, welch große Freiheit ich auf langen Bahnfahrten fühlte oder auf dem Fahrrad in Berlin oder in Lohr am Main. Vielleicht musste das also gar nicht sein, dass ich mir jetzt einen Peugeot gekauft habe, Bolo 1983.

Ich denke an die Ruhr-Universität, die geplant wurde für Heimschläfer aus Unna oder Herne oder Recklinghausen oder Dorsten, die mit dem Auto anreisten, das Ihnen Mama und Papa oder Oma und Opa geschenkt hatten, und bei der trotzdem irgendwann ein Parkplatz-Chaos ausbrach, als die Parkhäuser nach 30, 40 Jahren marode wurden. Da konnte man sich dann entscheiden, ob man in überfüllten U-Bahnen anreiste, sein Fahrrad Treppen hinauf und hinunter schleppte oder irgendwo außerhalb parkte, beim Institut von Herbert Grönemeyers Bruder Dieter. Oder heißt er Dietrich?

Ich denke an Honke Rambow, der bei Facebook ständig neue Artikel über autofreie Innenstädte oder die Vorzüge des Tempolimits postet. Er hat mit allem Recht. Autofahren in Ländern mit Tempolimit ist unendlich viel entspannter. Autobefreite Innenstädte haben eine unendlich höhere Aufenthaltsqualität. Ich hasse die große Straße vor meinem Schlafzimmerfenster genauso sehr, wie dass ich dort nie einen Parkplatz finde. Es ist paradox und ich fühle mich schuldig.

Ich denke an ein Zitat des Fantasy-Autors George R. R. Martin, das ich irgendwann im Magazin Konkret las. Er sagte sinngemäß, dass er sich vor allem deshalb vom Science-Fiction- auf das Fantasy-Genre verlegt habe, weil er von der Zukunft enttäuscht wurde: Statt fliegender Autos und der Abschaffung des Kapitalismus wurde die Umweltverschmutzung größer, das System immer unerbittlicher und man habe es mit neuen, gewaltigen Krisen-Herden und Kriegen zu tun. Auch Bolo 1983 kann noch nicht fliegen. Er verbraucht sogar noch Benzin, angeblich 4,5 Liter auf 100 Kilometer, aber wahrscheinlich werden es mehr sein. Oh, Elektromobilität, mögest du dich schnell zur massentauglichen Technologie entwickeln. Oh, my Mindset, mögest du den öffentlichen Nahverkehr als akzeptable Alternative akzeptieren. Oh, Opa, wo immer du auch bist, sag: Würde dir Bolo gefallen? Könntest du dich mit einem Leben ohne eigenes Auto anfreunden?