Dienstag, 19. Februar 2019

Oh Bort


Ich denke zuallererst an meinen Opa, wenn ich jetzt nach siebeneinhalb Jahren meinen Skoda Fabia weggebe. Wenn ich den steilen Waldweg hinunterkam und auf die Einfahrt mit dem klapprigen Tor zu, dann stand er entweder schon draußen oder winkte im Fenster, „Warte, ich komm rrrunter!“, und inspizierte erstmal den Wagen, dann mich. Mit kritischem Blick lief er einmal herum als würde er nach neuen Dellen oder Kratzern suchen, die ihm beweisen könnten, dass ich den Weg nach Bergneustadt mal wieder zu schnell zurückgelegt habe. „Besser nicht mehr wie 140!“, gab er mir mit auf den Weg, als er mir mein erstes Auto schenkte, einen weißen Golf II mit vier Gängen und 75 PS, den er für 1000 Mark meinem Stiefvater abgekauft hatte. In Opas Kopf wog der Status- und Komfortgewinn eines Autos ganz klar die Gefahr auf, in die er mein 18-jähriges Leben und das der anderen Verkehrsteilnehmer mit diesem Geschenk brachte. Ein Auto, das musste schon sein, das markierte deutlich, dass man es geschafft hatte: sich aus den Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit in ein annehmbares Leben zu navigieren. Noch in den 1970er-Jahren hatte sich mein Opa den Traum eines eigenen Mercedes Benz erfüllt, hellblau und natürlich gebraucht, und ich weiß nicht, ob ich mich selbst an die entsetzten Schreie meiner Eltern und Großeltern erinnere, als ich als Dreijähriger hinterm Steuer die Handbremse löste und den großen Garten hinunter auf den Waldrand zurollte, oder ob ihre lebhaften Erzählungen von diesem Ereignis zu eigenen Bildern in meinem Kopf geworden sind.
Nach seinem obligatorischen Rundgang machte Opa oft noch die Motorhaube auf, kontrollierte Öl- und Batteriewasser-Stand, goss Scheibenwaschanlagenwasser nach oder drehte sogar mal eine Zündkerze raus: „Ist ein bisschen schwarz, musst du vielleicht bald wechseln.“ Ich weiß, welch großes Glücksgefühl ich empfand, als ich zum ersten Mal mit dem dunkelblauen Skoda Fabia ankam, 2011 im Herbst wahrscheinlich. Er war sechs Jahre alt, hatte rund 70.000 Kilometer gelaufen, ich hatte ihn in Bochum bei einem richtigen Händler gekauft und Opa sagte nach seinem Rundgang ungläubig: „Da hast du für unter 5000 Euro einen fast neuen Wagen bekommen. Gut gemacht.“ Wenn ich jemandem erklären müsste, wie sich Stolz anfühlt, würde ich aus dieser Erinnerung schöpfen.

Ich denke an die Szene in der Serie „Die Simpsons“ als Bart in einem Freizeitpark ein Schild mit seinem Namen kaufen will, aber es gibt nur noch Schilder mit dem Namen Bort. „Bort? Wer heißt denn bitte Bort?“, fragt er genervt und ungläubig seine Mutter Marge und auf einmal rufen mehrere andere Mütter ihre Kinder: „Bort, komm jetzt!“ Als ich mir 2011 spontan eine Buchstabenkombination für das Nummernschild meines Skoda Fabia einfallen lassen musste, kam mir diese Szene in den Sinn. Auf keinen Fall wollte ich einen „BO-ND“ oder einen „BO-OM“, lieber einen „BO-BO“ wegen Mr. Burns Teddy Bobo, aber noch besser war „BO-RT“, dazu die Zahl 1900, weil ich damit einen ironischen Kommentar abgeben konnte zur skurrilen Eigenart anderer Menschen, ihr Geburtsjahr auf dem Nummernschild zu verewigen und weil ich die Literatur aus dem 19. Jahrhundert doch so liebte. Mein neuer Wagen wird ein „BO-LO 1983“ wegen der 1983 erschienenen anarchistischen Gesellschaftsutopie „bolo’bolo“ des Autors P.M., den ich vor zwei Jahren in einer Wohngenossenschaft in Zürich – der Art Bolo, die in unserer Realität möglich ist – traf. Dieses Nummernschild ist meines Wissens nur in Bochum möglich und es wird hier wahrscheinlich niemand verstehen. Großartig.

Ich denke an das Festival Rundlauf Bochum, das ich im Jahr 2013 zum ersten und vorletzten Mal mit organisierte. Wir brachten damals einen ganzen Stadtteil in Bewegung, machten ehrenamtlich kostenloses Kultur-Programm auf Plätzen, in leeren Ladenlokalen, Wohnungen und in einem Weltkriegs-Bunker, den seit Jahren oder Jahrzehnten kaum ein Mensch mehr betreten hatte. Wir warfen uns mit diesem Festival ins kalte Wasser, ich selbst zumindest hatte noch nie zuvor etwas Vergleichbares getan und schleppte zwei oder drei Monate das Gefühl einer kompletten Überforderung mit mir herum, dessen Manifestation das laute, metallische Knatschen von Borts Stoßdämpfern beim Fahren über die Bremsschwellen in Märzens Eiseskälte im Wohngebiet der Bochumer Speckschweiz wurde. Noch heute klebt unser wunderbar kryptischer, zartrosa Werbe-Aufkleber auf der Heckscheibe, der stilisiert das Gebiet des Rundlaufs zeigt ohne schriftlichen Hinweis auf das Festival. Ein echtes Underground-Ereignis, noch heute geraten Menschen ins Schwärmen, wenn sie sich erinnern, Bort war dabei und ich irgendwie auch.

Ich denke an die kurvige Strecke durch das spektakuläre Tal Glen Coe in den schottischen Highlands. Mein Freund Sebastian bat mich ständig rechts, ach nein, links ran zu fahren, um noch ein Foto zu machen. Und noch eins. „Schau mal, der Himmel! Fast gelb! Und diese Felsen im Wasser und die Hänge und da sind Schafe und wie die Straße verläuft!“ Bort war dabei als ich das erste Mal linksrum durch einen Kreisverkehr fuhr, und als Sebastian schrie: „Da kommt uns einer entgegen!“, oder als er auf Landstraßen schauen musste, ob wir jetzt überholen können, weil man vom Steuer auf der linken Seite aus ja nur die Vegetation am Straßenrand sehen konnte. Bort wartete auf dem Parkplatz bei den Bussen als wir den Duke of Argyll im Inveraray Castle besuchten (wir wussten nicht, was wir ihn fragen sollten), und an der Destillerie Glengoyne die Truppe der Whiskey-Bar „Highlander“ aus Alkmar wieder trafen, deren Bulli auf der Fähre von Amsterdam nach Newcastle gleich neben ihm stand. Bis zu seinem letzten Tag klemmte der Zettel mit der handgekritzelten Wegbeschreibung zum Restaurant im Moor an irgendeinem Loch in der Nähe des Grabs des schottischen Volkshelden Rob Roy in seiner Beifahrertür, wo es so leckeren Käse auf Schieferbrettchen gab. Auf der Hutablage liegen, wie sich das gehört, zwei Strohhüte: Einen hat mir Christiane in Holland geschenkt, weil meine schütteren Haare den Kopf im Sommer 2018 nicht mehr genügend vor Sonne schützten, einen bekam ich von der Queen of Loveland, Colorado, auf unserem Roadtrip durch Colorado 2015. Damals hatten wir einen Leihwagen und der Hut war eine Art Souvenir und Entschuldigung für Bort – über den Ozean, das ist zu weit für dich, mein Lieber.

Ich denke an Karl Ove Knausgard, der in seinen kurzen Essay-artigen Texten im Band „Im Herbst“ oder „Im Winter“ vom individuellen Autoverkehr als Erbsünde spricht, mit der wir umgehen, zu der wir uns irgendwie verhalten müssen. Ich habe immer gedacht: Man muss ein Auto haben als freier Journalist im Rhein/Ruhrgebiet, weil der öffentliche Nahverkehr so schlecht ausgebaut ist und man gerade abends einfach nicht mehr überall wegkommt. Mittlerweile denke ich: Man braucht vielleicht tatsächlich manchmal ein Auto, aber vieles geht auch ohne und im Zug hat man die Hände frei, kann lesen oder schreiben und Musik über Kopfhörer hören. Ich las einmal von einem Mann, der nach einer Nieren-OP an schwersten Panikattacken litt und nur auf stundenlangen Autofahrten etwas Linderung erfuhr. Ich konnte mich selbst in ihm erkennen, habe mein Freiheitsgefühl immer auch an den Besitz eines Autos gekoppelt, aber ich erinnere mich auch, welch große Freiheit ich auf langen Bahnfahrten fühlte oder auf dem Fahrrad in Berlin oder in Lohr am Main. Vielleicht musste das also gar nicht sein, dass ich mir jetzt einen Peugeot gekauft habe, Bolo 1983.

Ich denke an die Ruhr-Universität, die geplant wurde für Heimschläfer aus Unna oder Herne oder Recklinghausen oder Dorsten, die mit dem Auto anreisten, das Ihnen Mama und Papa oder Oma und Opa geschenkt hatten, und bei der trotzdem irgendwann ein Parkplatz-Chaos ausbrach, als die Parkhäuser nach 30, 40 Jahren marode wurden. Da konnte man sich dann entscheiden, ob man in überfüllten U-Bahnen anreiste, sein Fahrrad Treppen hinauf und hinunter schleppte oder irgendwo außerhalb parkte, beim Institut von Herbert Grönemeyers Bruder Dieter. Oder heißt er Dietrich?

Ich denke an Honke Rambow, der bei Facebook ständig neue Artikel über autofreie Innenstädte oder die Vorzüge des Tempolimits postet. Er hat mit allem Recht. Autofahren in Ländern mit Tempolimit ist unendlich viel entspannter. Autobefreite Innenstädte haben eine unendlich höhere Aufenthaltsqualität. Ich hasse die große Straße vor meinem Schlafzimmerfenster genauso sehr, wie dass ich dort nie einen Parkplatz finde. Es ist paradox und ich fühle mich schuldig.

Ich denke an ein Zitat des Fantasy-Autors George R. R. Martin, das ich irgendwann im Magazin Konkret las. Er sagte sinngemäß, dass er sich vor allem deshalb vom Science-Fiction- auf das Fantasy-Genre verlegt habe, weil er von der Zukunft enttäuscht wurde: Statt fliegender Autos und der Abschaffung des Kapitalismus wurde die Umweltverschmutzung größer, das System immer unerbittlicher und man habe es mit neuen, gewaltigen Krisen-Herden und Kriegen zu tun. Auch Bolo 1983 kann noch nicht fliegen. Er verbraucht sogar noch Benzin, angeblich 4,5 Liter auf 100 Kilometer, aber wahrscheinlich werden es mehr sein. Oh, Elektromobilität, mögest du dich schnell zur massentauglichen Technologie entwickeln. Oh, my Mindset, mögest du den öffentlichen Nahverkehr als akzeptable Alternative akzeptieren. Oh, Opa, wo immer du auch bist, sag: Würde dir Bolo gefallen? Könntest du dich mit einem Leben ohne eigenes Auto anfreunden?