Montag, 11. März 2019

Wasserball und Kommunismus


Abwesend wirkende Einlassmenschen, drückende Wärme, schäbige, angemackte Fliesen, Chlorgeruch – die ganze Kindheit ist wieder da, wenn ich ein Hallenbad betrete. Die Scham über meine Badehose mit Seepferdchen-Aufnäher, obwohl alle um mich herum kurze Zeit später schon mindestens den Freischwimmer geschafft hatten. Die Unverständnis meiner Mutter als ich eine neue Badehose forderte, obwohl sie doch gerade erst den Aufnäher auf die alte gebracht hatte. Generell diese latente Scham in der kalten Gruppendusche des alten Realschulschwimmbads (obwohl ich doch in die Grundschule ging!) mit den schmalen Fenstern ganz oben an der Wand in Deckennähe, zu schmal, um hinaus zu sehen, sich hinaus zu sehnen. Den Tipp des strengen Lehrers Herr Soest, sich am Ende kalt abzuduschen, weil das die Hautporen verschließe, befolgte ich nie. Er brachte mich aber zu einem neuen Nachdenken über die Funktionen des eigenen Körpers.

Diesmal bleibe ich angezogen. Ich widerlege meine Selbstannahme, mich ein für allemal nicht mehr für Sport zu interessieren. Diese Selbstannahme ist über die Jahre gewachsen, obwohl ich doch 1995 schon vor 20.000 Fans als offizielles Bengalo-Feuerwerk tragendes Kind im VfL-Bochum-Stadion auflief. Mein Vater hatte damals wahrscheinlich die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass aus mir noch ein normaler Junge wird. Die Reise zur verfrühten Meisterschaft von Borussia Dortmund im Spiel gegen den TSV 1860 München in München war dann aber doch eher merkwürdig.

Jetzt geht es nicht um Fußball, sondern um Wasserball. Das ist mir sympathisch, weil einer meiner Lieblingsregisseure, Nanni Moretti, einen Film gemacht hat, der „Wasserball und Kommunismus“ heißt. Um ihn endlich einmal anzuschauen, habe ich gerade sogar meine Nerdfähigkeiten reaktiviert und mich in die Tiefen des Torrent-Netzwerks gearbeitet. Es gibt ihn nur auf Italienisch mit englischen Untertiteln und auch nur bei einem Seed und einem Peer. Das wird dauern.

OK. Also Nerdskills und Sportinteresse. Das ist alles wieder da, weil meine Freundin C. oft mit voller Emphase von ihrer Liebe zum Wasserball erzählt. Also, es ist vielleicht nicht nur eine reine, ungebrochene Liebe, aber sie bleibt am Ball. Sie hat diesen Sport einmal als einen (vielleicht als den einzigen) Sinnspender bezeichnet. Das ist etwas. Die Frage nach dem Sinn hat mich zuletzt fast in die Verzweiflung getrieben, um das mindeste Wort zu benutzen, das den Zustand umschreiben kann, deshalb dachte ich: Wow.

Und auch jetzt, hier im Unibad: Wow. C. hatte noch versucht, mich vom Besuch des Spiels gegen Hannover abzuhalten. Sie hatte gesagt: „Wir haben die Quali verpasst, es geht um nichts mehr.“ Aber soweit ich mich erinnern kann, geht es beim Sport doch immer um etwas, mindestens um die Probe für ein wieder wichtiges Spiel, das immer irgendwann ansteht. Und so war es auch. Während ich angezogen, bloß mit bloßen Füßen durch die Halle schleiche, tobt im Becken schon das Spiel und auf der kleinen Zuschauer-Tribüne ein kleiner Pulk aus mitgereisten und heimischen Fans.

Gerade, weil ich von C. ganz anders instruiert wurde, empfinde ich die Atmosphäre als extrem aufgeheizt. Schiedsrichter auf jeder Seite laufen auf und ab, pfeifen andauernd schrill, machen energische Handzeichen, ein Kommentator spricht mit lauter Stimme in ein Mikrofon, immer wieder ertönt ein Alarmsignal und das erste Mal denke ich: Scheiße, das Dach bricht ein wegen des Orkans draußen. Aber es hat wohl irgendwas mit der speziellen Aufteilung der Spielzeit zu tun. Es gibt nicht nur vier Viertel, sondern auch Angriffszeiten, Time-Outs und Pausen. Ständig rasen neue Sekunden über die Anzeige. Ich bleibe ständig und immer wieder neu im Hier und Jetzt. Ein Zustand, den ich mir bei der Meditation oft mehr wünsche als erreiche. Mehr Sinn geht vielleicht gar nicht.

Ich frage mich, ob die Spielerinnen die großen Badekappen mit Ohrenschutz vor allem deshalb tragen, um die extreme Geräuschkulisse zu ertragen, oder ob die Geräuschkulisse so extrem ist, um durch die großen Badekappen mit Ohrenschutz zu den Spielerinnen durchzudringen. Die Schiedsrichter jedenfalls sind offenbar schon hörgeschädigt, denn um ihr letztes Time-Out zu bekommen, muss der gesamte, mittlerweile stehende Hannoveraner Fanblock wütend und entrüstet „Time! Out!“ schreien. Dass keine Bierdose fliegt, liegt nur daran, dass hier niemand Bier trinkt. Wasserball ist ein sauberer Sport, höchstens mit etwas Chlor versetzt.

Bochum führt, doch Hannover holt auf, schießt das Unentschieden, obwohl man hier doch wirft. Manchmal schreit eine Spielerin plötzlich auf und ich frage mich, ob es spezielle Kameras gibt – oder ob Treten, Kneifen und andere Gemeinheiten unter Wasser meist unentdeckt bleiben. Verzweifelte Gesichter blicken in Richtung Trainer: Was hat er gesagt? Ich soll auf die drei? Nein, doch sie? Ein Typ mit Glatze, Bart und hochrotem Kopf explodiert in skurriler Regelmäßigkeit und brüllt heiser Sätze wie: „Das kann doch nicht sein! Das musst du doch sehen!“, und meint wahrscheinlich den Schiedsrichter. Ich frage mich, ob er der Typ ist, der Zuhause auch seine Kinder anschreit oder Katzenbabys verprügelt, oder ob er total reflektiert alle Aggressionen beim Sport ablässt und in allen anderen Zusammenhängen Ruhe und Sanftmut bewahrt.

Nach dem Spiel treffe ich ihn vor dem Eingang. Dem Orkan einen Schritt voraus hat er sich die Zigarette bereits eine Tür vor der letzten Schleusenstufe angezündet. Ich frage ihn, ob C. schon gegangen sei. „C. hat heute vielleicht nicht die meisten Tore geschossen, aber sehr gut gespielt“, sagt er. Und redet einfach weiter: „Du hast dich sicher gefragt, warum sie so oft ihren Arm gehoben und damit herum gewedelt hat.“ Pause. Ich weiß nicht, ob ich mich das gefragt habe. Eigentlich war mir recht klar, dass „Das war, um den Gegner von einem guten Passspiel abzuhalten – und das hat wunderbar geklappt.“ Ich sage: „Aha.“, und jetzt weiß ich, wie sich das anfühlt, wenn man als Mann in einen Fall von Mansplaining gerät. Wir können manchmal richtig nervig sein.

C. erklärt ihr Armwedeln anders: „Anstatt selbst kreativ zu werden, habe ich die anderen daran gehindert.“ Ich sage: „Ihr habt gewonnen, das ist doch wunderbar!“ Sie sagt: „Wir hätten gestern gewinnen müssen, heute ging es um nichts“, und hat Tränen in den Augen. Der Trainer kommt auf mich zu, schüttelt mir die Hand: „Danke für die Unterstützung!“ Offenbar fällt ein neues Gesicht hier gleich auf. Ich denke, man sollte diese Mannschaft in Zukunft mehr unterstützen. Aber was hat das jetzt mit Kommunismus zu tun? Hallo Torrent-Download? Restzeit 3d14h? Ohje.