Freitag, 17. Mai 2019

Terezín

Terezín, Theresienstadt, Stadt genannte Festung. Die dünnen Wasserstrahlen, die die Pumpen des Brunnens auf dem großen Platz in die Luft schießen, können keine Feier des Lebens vortäuschen – über der Stadt hängt eine Glocke und die dumpfe Atmosphäre des tödlichen Schreckens kann nicht abziehen. So fühle ich jedenfalls gleich nach der Ankunft und ich weiß nicht, ob ich es gefühlt hätte, wenn ich nicht wüsste, wo ich mich befinde und was hier geschehen ist. Zwischen 1500 und 2000 Menschen leben noch in der Stadt, die Militärkaserne, die Ghetto, die Gefängnis war, erzählt unser Tourguide. Gebaut wurde sie für 10.000, die Nazis pferchten ungefähr fünf- bis sechsmal so viele Menschen hinein, als sie sie im Zweiten Weltkrieg zum jüdischen Ghetto machten. Da drüben liegt ein Mann hinter der Lehne einer Bank auf dem Rasen und ruft unverständliche Laute über den Platz. Ein Obdachloser? Ist er hingefallen? Nein, er sieht aus, als läge er sich zum Schlafen in die paar Sonnenstrahlen, die sich durch Lücken in der Wolkendecke schummeln. Er hat die Schuhe ausgezogen.

Ich will nicht an der Führung durch Theresienstadt teilnehmen, das Grauen in meinem Kopf ist so schon groß genug, ein Unwohlsein im ganzen Körper. Ich möchte es hinausrufen, mich dazu legen. Tränen kriechen den Hals hoch, wollen sich nicht schlucken lassen. Ich denke an die Freundin, die mich zum Hannes-Wader-Konzert begleitet hat, Tränen liefen ihr über die Wangen, als er „Die Moorsoldaten“ anstimmte, das Lied der Häftlinge des KZs Börgermoor. Ich habe mich gefragt, warum nicht viel öfter Menschen weinen, wenn es um diesen Teil der deutschen, unserer Geschichte geht. Ich glaube, weil nur wenige ermessen, dass nicht Monster diese Taten begangen haben, sondern Menschen, unsere Vorfahren, dass derart schreckliche Verbrechen in bestimmten historischen Konstellationen im Bereich des Möglichen liegen.

Susanna geht auch nicht mit auf die Führung. Sie soll auf die Fahrräder aufpassen, aber die hat sie schon sicher weggeschlossen. Wir gehen langsam über den Platz, an dem Mann vorbei, der jetzt ganz ruhig und regungslos hinter der Bank im Gras liegt. „Is he alive?“, fragt Susanna, und ich gehe näher zu ihm hin. Sein Gesicht ist rot, seine Finger ganz blass und dürr, unter den Nägeln ein Schmutzrand. Ich gehe noch näher auf ihn zu, rieche Alkohol und glaube, regelmäßige Bewegungen in seinem roten Barthaar zu erkennen. „I think he’s breathing“, sage ich, und wir entfernen uns wieder. Was hätten wir tun können? Was könnten wir jetzt tun? Die Frage ist wie vor 80 Jahren aktuell.

Susanna fragt, ob ich jetzt den Räucherkäse kaufen möchte, nach dem ich schon seit gestern suche. Da wäre ein Laden. Nein, nicht hier. „It’s a normal shop now“, sagt sie. – „Yes I know.“ Aber es wäre mir peinlich, wenn die anderen sähen, dass ich während ihrer Führung durch Terezín, während ihrem Rundgang durch das Ghetto-Museum Käse gekauft habe.

Zwischen alten Backsteinmauern, die wohl zu den Verteidigungsringen der alten Festungsanlage gehören, sind Ziegen eingepfercht. Sie meckern von weitem hörbar. Früher war es hier sicher still. Kein Wort drang durch die Mauern und Tore, leise Gespräche der Schicksalsgenossen ohne Aufsehen zu erregen – oder Aufseher? Einige Ziegen fressen lustlos das trockene Stroh, auf dem sie herumlaufen oder –liegen. Wir sammeln bedächtig frischen Löwenzahn und Sauerampfer von der grünen Wiese vor ihrem Tor, halten es ihnen durch die Zwischenräume hin. Es ist schwierig, auch die kleinen zu füttern, ein Ziegenbock stößt alle mit den Hörnern fort. Doch es ist möglich, wird zum Sport: den Benachteiligten helfen. Ein kurzer Trost. Ein Blick nach oben. Vor der bröckelnden Fassade und den zugestellten und damit blinden Fenstern einer hohen Kasernenfassade steht ein Lindenbaum. Ich möchte zu Susanna sagen: „Der stand vielleicht schon vor 80 Jahren hier, hat alles miterlebt.“ Ein Gespräch über Bäume, das kein Schweigen über die an diesem Ort verübten Untaten einschließt.

Hat die Linde sich im Wind gewiegt als Menschen ankamen, sich zu Tode schufteten oder abtransportiert wurden? Sind die Vögel damals genauso wild hin und her geflattert, haben genauso vielstimmig gesungen?

Gestern Nacht bin ich mit Susanna durch Litowice spaziert, eine Stadt wie ein Freilichtmuseum, überall schönste gedämpfte Lichtstimmungen, Aussichtspunkte über die Kirchen und Schlösser und böhmische Berge. Wir spazierten wie Jesse und Celine in „Before Sunrise“ durch Wien spazieren, suchten immer wieder ein neues Ziel. An einer kleinen Mauer mit Blick auf das darunter liegende Haus reicher Leute mit Swimmingpool spielte ich ihr James Taylors Version von „Oh Susanna“ vor und wusste gar nicht, ob ich das als romantischen Moment meinte. Als James Taylor fertig war, sagte sie mit einer Leichtigkeit: „Okay, now we can go home.“ Jeder in sein Hotelzimmer.

Mit derselben Leichtigkeit schlendert sie jetzt durch den Second-Hand-Laden eines grimmigen Alten mit vergilbtem weißem Bart. Der Laden ist von oben bis unten vollgestellt mit Dingen, die früher Haushalte gefüllt haben: Teller, Tassen, Bilder, Fotos, auch Waffen, Gasmasken. Ich möchte nicht darüber nachdenken, wem diese Dinge einmal gehört haben, möchte wieder raus, ganz raus, hinter den äußersten Schutzwall. Ich bin dankbar, dass ich es heute tun kann. Auf ein Fahrrad steigen und wegradeln, in die nächste Stadt, zum nächsten Bahnhof. Gleich, in einer halben Stunde.

Bis dahin gehen wir in ein Café und reden nicht mehr. Eine Frau bringt mir lächelnd eine heiße Schokolade, die eine Konsistenz hat wie ein Pudding. Ich frage mich: Warum leben hier Menschen? Wie können sie das? Sollte ein Ort mit dieser Geschichte versuchen, Stadt zu sein? Sollte er nicht lieber als eine Art Freilichtmuseum geführt werden, als lebendiges Mahnmal? Und jeder der hier ist wird bezahlt vom deutschen Staat.

Susanna zeigt mir etwas aus ihrer Tasche. Sie hat bei dem Bärtigen eine kleine Engelsfigur gekauft. „My mother loves them.“ Aber dieser Engel hat vielleicht einmal nicht aufgepasst.