Mittwoch, 6. Mai 2020

Corona-Tagebuch: Freihändig Fahrrad fahren

Wie hat sich die Corona-Krise angefühlt? Das Gefühl der Nutzlosigkeit, des Beschränkt- und Eingesperrtseins wich manchmal dem großer Freiheit. Ich blieb bis zum Nachmittag im Bett und überprüfte, was mir einst ein Psychologe erklärt hatte: „Sie können gar nicht einfach immer liegen bleiben. Irgendwann müssen sie aufstehen.“ Wie um ihm das Gegenteil zu beweisen, bleibe ich noch eine Stunde länger liegen und tue nichts. Nehme ab und zu das Smartphone zur Hand. Schaue an die Decke. Denke nach, aber nicht zu angestrengt. Dann wird es zu warm, mein Rücken tut weh und mein Kopf auch. Ich setze mich an den Laptop und formuliere Fragen an den Philosophen Byung-Chul Han: „In Ihrem Essay ‚Kapitalismus und Todestrieb‘ schreiben Sie, unsere spätkapitalistische Gesellschaft habe den Tod aus dem Leben verdrängt: ‚Die Hysterie der Gesundheit ist die biopolitische Erscheinung des Kapitals selbst.‘ Sehen Sie in den Maßnahmen zur Eindämmung des Virus eine Erscheinung dieser Gesundheits-Hysterie?“ Ob er überhaupt antworten wird? In einer überraschend schnellen Reaktion auf meine erste Mail hat er mir gestattet, ihm Fragen zu schicken, falls ich eine Zusage für die Veröffentlichung des Interviews bekommen würde. Mittlerweile haben mir drei Medien feste Zusagen gegeben, aber Byung-Chul Han antwortet nicht mehr. Was kann ich tun? Ihn auf seine Zusage festnageln? Seine Telefonnummer herausfinden? Hatte Byung-Chul Han vielleicht gar kein Telefon und ruft auch nur selten seine Mails ab, weil er den größten Teil seiner Tage dafür reserviert, den Duft der Zeit zu vernehmen? Meine Kopfschmerzen werden stärker. Ich muss raus. Ja, der Psychologe hatte Recht: Ich kann weder den ganzen Tag im Bett liegen, noch einfach mal in der Wohnung bleiben. Ich muss raus. An der Boule-Bahn schlurfen ein paar Nachbarn herum, was mich freut: Sie sind immer da – mit oder ohne Corona. Ich mag Konstanten, gerade in Krisenzeiten. Aber ich spüre, es wird nicht reichen, jetzt da bei ihnen zu stehen, vielleicht mitzuspielen. Ich habe so viel Zeit im Bett und am Computer verbracht, also quasi in Gefangenschaft, muss jetzt Freiheit spüren. Ich setze mich aufs Fahrrad und fahre die Wittener Straße herunter, dann links rein. Durch ein Wohngebiet, das ich noch nicht kenne. Manchmal reicht das schon, um ein Gefühl von Freiheit zu spüren: einmal kurz von den bekannten Wegen abweichen. Zwei, drei Straßen, die ich noch nie gesehen habe, bedeuteten: Ich kann mir ein Stück neue Welt aneignen, auch in Zeiten von Corona. Davon will ich mehr. Ich fahre freihändig am alten Friedhof vorbei. Freihändig Fahrrad fahren. Das konnte ich eigentlich nie. Das machte mich unsicher. Ich geriet ins Wanken. Jetzt war es auf einmal kein Problem. Hatte das Virus meinen Gleichgewichtssinn repariert? Leute, könnt ihr das sehen? Ich fahre freihändig! Und ihr? Warum tragt ihr Mund-Nase-Masken? Draußen? Auf dem Fahrrad? Verrückte Welt! Links der Friedhof, rechts das Gelände der alten Stadtgärtnerei. Sollte das nicht längst bebaut werden? Im Moment sprießen Rasen und Unkraut in sattem Grün. Da stehen irrsinnig schöne, alte, große Bäume. Mensch, was für eine Platane! Hoffentlich wird sie nicht gefällt für hässliche Wohngebäude. Vorbei am alten Café Havkenscheid, das jetzt eine elegante Bungalow-Wohnung ist, in der eine Kunst-Kuratorin stilvoll wohnen könnte wie Colin Firth in „A Single Man“. Aber sie hat ein Kind und deswegen liegen überall Spielsachen herum. Ich fahre freihändig an der Müllkippe vorbei, die nicht stinkt, vorbei auch am großen Möbelhaus und dem riesigen, ehemaligen Opelgelände, das jetzt für Logistik-Dienstleiter und innovative Start-Ups klar gemacht wird. Kann man dort schon mit dem Fahrrad herumkurven? Vielleicht ist es noch zu früh, überall stehen Bauzäune wie gerade um die Spielplätze. Dafür zwei Runden um den Ümminger See. Vielmehr Halbrunden, weil nur auf der Ostseite noch Sonne ankommt. Die will ich mitnehmen. Eine Kugel Bananeneis mit Blick auf die kleine Insel in der Seemitte. Gänse und Vögel schreien von dort unablässig. Was ist wohl los? Sollte vielleicht einmal jemand nachschauen? Steht irgendwo ein Ruderboot? Ihr Getöse wird grundiert vom Rauschen, Brummen und Knattern der Autobahn, die westlich des Sees verläuft. Im Ruhrgebiet verläuft ja immer irgendwo eine Autobahn. Deswegen ist der mir häufig geschehene Schreibfehler „Ruhegebiet“ gänzlich falsch, nicht zutreffend. Es herrscht wieder viel Verkehr. Die Leute haben offenbar keinen Bock mehr auf Quarantäne. Weiter in den Stadtteil Langendreer, der Bochum-intern L.A. abgekürzt wird. Ich stelle mir das richtige L.A. groß vor, irrsinnig groß: Alle Straßen haben acht oder zwölf Spuren und führen durch endlose Einkaufszentren und zersiedelte Vororte in die Hügel, wo die Reichen wohnen. Das Bochumer L.A. hat Gewerbegebiete und acht-, zwölf- oder noch-mehr-gleisige Güterbahnhöfe, die teilweise stillgelegt sind. Ich bin wieder ein kleiner Junge, den die Enge der Wohnung mit ihren Mit-Insassen (oder sind sie Wärter?), chronisch streitenden Eltern, in den Sommerferien nach draußen treibt zu den stillgelegten Eisenbahnschienen. Obwohl hier schon lange kein Zug mehr fährt, das kann man erkennen am Rost auf den Schienen, hat mir ein Erwachsener erklärt, bergen sie ein Versprechen: Es führt ein Weg weg von hier. Die Schienen in L.A., also dem Bochumer L.A. sind von kleinen Sträuchern und Birken-Nachkommen zugewuchert. Zwischen hellgrünen Blättern blitzt das Metall im letzten Sonnenlicht und versetzt mir einen Sehnsuchts- und Melancholie-Stich. Wohin hat der Weg mich geführt? Nach Bochum. Auf diese abgefahrene, von hohen Bäumen gesäumte Pflastersteinstraße, die in Richtung Westen leicht ansteigt, so dass sie endlos wirkt, weil sie aus dieser Perspektive den Horizont bildet. Ich muss sie entlang fahren Richtung Sonne, die sich langsam dem anderen Horizont, es gibt ja immer einen anderen Horizont, annähert. Die Pflastersteine rütteln und schütteln mich und plötzlich wird mir klar: Ich kenne diese Straße. Sie heißt Hohe Eiche. Hier ist das Figurentheater-Kolleg in einem schönen, alten Backstein-Schulgebäude und vor ungefähr knapp drei Jahren kam hier eine Frau, die ich irgendwie mochte, aus der großen Eingangstür und wir gingen in den nahen Volkspark Langendreer, um uns zu streiten. Sie erklärte mir, dass man in Beziehungen Verantwortung übernehmen müsse, verbindlich sein. Ich fand, dass man nach erst zwei vorangegangenen Treffen doch überhaupt noch gar nicht von einer Beziehung sprechen konnte oder sollte. Schon gar nicht von einer, in der man Verantwortung zu übernehmen hatte. Das war doch irgendwie unzulässig. Gleichzeitig fiel mir auf, wie schön dieser Park war. Leicht verwildert, mit Sitzgelegenheiten, die sicher seit Jahrzehnten nicht verändert und auch nicht gesäubert worden waren. Mit Objekten, bei denen man nicht wusste, ob sie moderne Ruinen oder Skulpturen oder zufällige Bauten junger Menschen waren, denen überschüssige Sommerferien-Energie, Backsteine und Beton zur Verfügung stand. Mich erinnerte dieser Park an Maryon Park in London, dem Drehort der tollsten Szene in Michelangelo Antonionis Film „Blow Up“, den ich sehr liebe. Auch im Maryon Park hat sich seit Jahrzehnten nichts verändert und als ich ihn vor ungefähr zehn Jahren betrat, war das wie Michelangelo Antonionis Film zu betreten. Und wenn man über Bochums Straßen freihändig nach L.A. und London, zu vergangenen Liebschaften und die Sommerferien der Kindheit fahren konnte, dann hatte ich es doch weit gebracht. So hat es sich angefühlt. Und auch ein bisschen wie eine Grippe. Aber dazu später mehr.


Freitag, 10. April 2020

Corona-Tagebuch: Karfreitagsgedanken

Es ist ein merkwürdiger Karfreitag. Wer heute einen Tanz veranstaltet, gilt nicht als Feiertagsbrecher*in, sondern verstößt gegen das Infektionsschutzgesetz oder die Moral, gilt als egoistisch, hedonistisch und sowas. „Das Leben des Brian“ schauen die Assoziierten der Initiative „Religionsfrei im Revier“ wahrscheinlich nur vereinzelt in privaten Rahmen. Was viele heute vielleicht nicht mehr wissen: An Karfreitag finden nicht nur illegale Autorennen statt („Car-Freitag“), Christen gedenken auch des Leidens und Sterbens Jesus‘ am Kreuz. Ob einige von ihnen dabei wirklich bedenken, was es bedeutet, in einer Welt zu Leben, in der jemand an ein Kreuz genagelt wurde, der in aller Radikalität nach diesem Gebot gelebt hat: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“? Und: Bedenken wir wirklich, was es bedeutet, in einer Welt zu leben, in der Tod und Sterben eine unausweichliche Realität darstellen? Diese Frage stellt sich mir seit Beginn der Corona-Krise jedenfalls immer lauter.

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Diesen Satz jetzt hier so hinzuschreiben und dann eigene Gedanken folgen zu lassen, erinnert mich an all die evangelischen und freikirchlichen Predigten, die ich in meinem Leben hören musste und die mir nicht immer gut bekommen haben. Aber nun gut, trotzdem weiter: Das Gebot der Selbst- und Nächstenliebe ist derart radikal, dass es die Welt aus den Fugen heben würde, befolgten die Menschen seine Aufforderung in letzter Konsequenz. Sie würden anfangen, sich selbst lieben! Und dann – im Prinzip – auch alle anderen, denn anders geht es ja nicht. Der Satz war (und ist) natürlich viel zu radikal für die christliche Kirche, die ja weiter das Bild des wütenden, eifersüchtigen, irgendwie egozentrischen Gott mit sich rumgeschleppt hat, das es im Alten mindestens auch gibt, und einen Einklang beider Bilder suchte, der schwer zu finden ist. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ könnte man eher im Buddhismus verorten. Thich Nhat Hanh entwickelt schöne Gedanken dazu in „Jesus and Buddha as Brothers“, das ich im vielleicht schönsten Buchladen der Welt, dem Boulder Book Store, hinterm Schrank in der spirituellen Ecke fand. Aber was hat das jetzt mit Corona zu tun?

Ich bin nicht sicher, ob die Menschen in unserer Kultur gerade in erster Linie aus Nächstenliebe handeln wie sie handeln – oder aus Angst. Ich würde schon sagen, dass es ein Akt der Nächstenliebe ist, eine erstmal ja für das einzelne Gesellschaftsmitglied ziemlich abstrakt erscheinende Gruppe aus Alten und Vorerkrankten durch Kontaktverbote zu schützen und dabei allerhand zu riskieren: Die schlimmste Befürchtung scheint in der öffentlichen Diskussion die einer großen Wirtschaftskrise zu sein. Das wundert wenig, denn obwohl Kritik am Kapitalismus und seiner Wachstumslogik aus unterschiedlichsten Richtungen wieder und weiter sehr stark ist, gibt es doch kein alternatives Konzept, an das eine größere Mehrheit glauben mag. Am Rande gibt es weitere Befürchtungen: Vereinzelt tauchen Stimmen auf, die vor psychischen Folgen der sozialen Isolation warnen, vor Suiziden, vor häuslicher Gewalt. In meiner Wahrnehmung wird darüber allerdings eher wenig berichtet. Über Suizide ja sowieso generell kaum und wenn, dann nur sehr rudimentär, weil man Nachahmungstäter befürchtet wie damals als Goethes „Leiden des jungen Werther“ erschienen.

Also ja: Alte und schwache Mitglieder zu schützen ist ein gesamtgesellschaftlicher Akt der Nächstenliebe. Doch wenn ich die Kommentarspalten unter Corona-Artikeln im Facebook lese oder die Ansichten Bekannter und Freunde vernehme, dann lese ich daraus auch sehr viel und sehr existenzielle Angst, Verunsicherung. Leider nicht nur das. Es ist auch eine Sehnsucht nach dem faschistischen Staat, die ich aus endlosen Kommentaren zu lesen glaube, eine Sehnsucht nach der Beschneidung aller Freiheitsrechte, nach harten Kontrollen und Strafen durch einen Polizei- oder sogar Armeeapparat, wenn es die Umstände nur gebieten.

Wahrscheinlich wird die derzeitige Lage mein Weltbild auch für die Zeit nach Corona nachhaltig erschüttern. Eigentlich wollte ich mich nie zu sehr auf die Seite von Panik und Paranoia ziehen lassen. Ich fand es albern, wenn Freunde die Kameras ihrer Laptops oder Smartphones zugeklebt hatten oder bei harmlosen Gesprächen darum baten, das Smartphone außer „Mithör-Reichweite“ zu legen. Ich hatte ein Grundvertrauen in unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung – und dass der Staat auch eine neue Wirtschaftsordnung in Kauf nehmen würde, wenn eine Mehrheit seiner Bürger dafür wäre. Heute bin ich unsicher: Vielleicht hört ja doch wer mit, wenn das Smartphone in der Nähe liegt, weil man aus bestimmten Gesprächsverläufen schließen kann, ob jemand infiziert ist. Vielleicht stellen Telefongesellschaften Bewegungsprofile nicht nur anonymisiert zur Verfügung.

Im vergangenen Sommer, als ich mich frei und in jeder Art Gesellschaft durch große Teile dieser Welt bewegen konnte, habe ich an der Ruhr den schmalen Band „Unverfügbarkeit“ des Soziologen Hartmut Rosa gelesen. Er wendet darin seine große Theorie der „Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung“ auf konkrete Lebensbereiche an. Ich fand das super erhellend: Rosa knüpft unter anderem an die Kritische Theorie von Horkheimer und Adorno an, wenn er sagt: Das Projekt der Moderne ist eins der Verfügbar- und Erwartbarmachung von Welt. Wir Menschen glauben, alles unter Kontrolle gebracht zu haben. Wir kennen jeden Winkel der Erde (und des Universums), haben allen Dingen einen Namen gegeben. Wir können vermeintlich nicht nur Wirtschaftsbeziehungen statistisch erfassen, sondern auch Lernerfolge, Liebesfähigkeit. Wir glauben zu wissen, was (und wie lange) wir vom Leben erwarten können und – damit komme ich zurück zum Anfangsgedanken – auch vom Sterben.

Wir schlafen im Fernsehsessel ein, kippen mit der E-Gitarre im Arm von der Bühne, sacken beim Spazierengehen zusammen oder sterben mit superguter Palliativmedizin quasi unmerklich im Krankenhaus. Aber wir sterben doch nicht an einem durchgedrehten Virus. Wo kommen wir denn dahin? Wofür all die Krankenhäuser, Medizinunternehmen, Universitäten und Labore?

Was überwiegt also gerade? Die Liebe oder die Angst – auch um das eigene Leben? Wir blicken uns erschrocken an im Supermarkt: Hatte sie nicht gerade noch ein Taschentuch an der Nase, in der Hand? Da ist jemand mit einer dunkleren Hautfarbe als meine. Vielleicht stinkt er nicht nur, hat keine Manieren oder geringere Intelligenz, vielleicht trägt er auch das Virus. Das Virus ist das Fremde, Unverfügbare, nicht berechenbare Element. So etwas darf es nicht geben. Es konfrontiert uns mit den großen Fragen unserer Existenz, die niemand beantworten kann.

Schön wäre, wenn viele Menschen die Zeit der Kontaktreduzierung nutzen würden, einen Tag wie diesen Karfreitag, um ihren Frieden mit dieser unklaren Situation zu finden, wenn sie dem Leben auch nach Corona mit etwas mehr Demut begegnen könnten.

Eine Freundin hat gestern ihr Telegram-Profilbild geändert. Zu sehen ist ein gezeichneter Mond und drei Feststellungen:
1. We are in space
2. No one knows what’s going on
3. I love you

Freitag, 27. März 2020

Corona-Tagebuch: Ich war ein Fremder

„Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt“ steht auf dem Obelisken von Olu Oguibe in Kassel. Das Kunstwerk der letzten documenta ist selbst wie ein Fremdling durch die Stadt gewandert und hat jetzt auf der Treppenstraße eine neue Heimat gefunden, auf der natürlich wie in der gesamten Stadt nicht viel los ist. Die Menschen hören auf ihre Bundeskanzlerin und bleiben Zuhause. Ein Mann mit dunkler Hautfarbe, den ein Großteil der weißen Mehrheitsgesellschaft als „fremd“ oder „anders“ lesen würde, sitzt auf einer Bank neben dem Obelisken und fummelt mit etwas Weißem herum. Es wirkt wie eine Performance: Das unbeschrieben aussehende Stück Papier, das er aus seiner Tasche holt und auseinanderfaltet, könnte eine Theaterrequisite sein, die eine Stadt- oder Landkarte darstellen soll. (Oh, wie ich mich nach Theater sehne!) Was sucht er wohl? Ist er auf Reisen? Geht das überhaupt in diesen Zeiten? Ist das erlaubt?

Ich mache ein Foto des Obelisken durch ein paar Zierkirschenzweige, die den Höhepunkt ihrer Blüte schon hinter sich haben. Blütenblätter fallen auf den Boden der Fußgängerzone, die niemand benutzt, darüber gewinnt das Himmelsblau an Intensität. Es wird Abend. Der Natur ist das Virus, das zu ihr gehört, egal. Ihre Aufführungen finden ungehindert statt. Ich finde das immer noch faszinierend, dass die Erscheinungen dieser Welt, als deren Teil wir leben, gleichzeitig so schön und schrecklich sein können. Zumindest empfinden das ja gerade viele Menschen so, dass die Natur schrecklich ist, das Andere, das draußen vor der Wohnungstür mit Krankheit und Tod droht.

Ich überlege, ob ich mich hier an diesem Obelisken Zuhause fühle. Nein, ich glaube, er fühlt sich selbst noch nicht so richtig Zuhause an diesem Ort.

Auf dem Weg zurück tausche ich Blicke mit einer Frau mit roter, von Pusteln übersäter Haut. Sie wühlt in einer Tüte und lächelt dabei. Sie wird noch länger hier bleiben, vielleicht wenn es dunkel wird, in ein kleines Zimmer oder eine Unterkunft zurückkehren.

Ich kehre zurück in die WG, die mich gerade beherbergt. Ich habe noch etwas eingekauft, auch weil ich eine große Dankbarkeit fühle, die ich zurückgeben möchte. Die vier Frauen hier haben mich aufgenommen in einer Zeit, in der das alles andere als selbstverständlich ist. Ich bin gerade ein Fremdling. Jeder ist gerade ein Fremder. Jeder kann das Virus tragen, das Fremde, das Andere, das uns krank macht, das unsere Großeltern oder die Freundin mit Asthma töten könnte. Natürlich hat es wegen meines Besuchs Diskussionen gegeben. L. sagt, das Virus könne auch Wochen nachdem die Symptome abgeklungen sind noch ansteckend sein. Auch kleine Kinder könne ein schwerer Verlauf der Krankheit treffen. Sie möchte eigentlich nicht, dass Besuch in die WG kommt. Der Ex-Freund von A. sieht das genauso: „Das ist fahrlässig, dass er hier ist. Ein Risiko“, höre ich ihn sagen als er kurz in ihrem Zimmer sitzt, um eins ihrer gemeinsamen Kinder abzuholen.

Dabei bin ich immer mehr der Meinung, dass ich das Virus bereits gehabt habe. Ich hatte drei Tage erhöhte Temperatur und war dann noch eine Woche lang schlapp, hatte Gliederschmerzen und habe irgendwann nichts mehr gerochen. Ich habe mein Deo direkt an meine Nase gehalten – nichts. Eine weitere Woche später rieche ich immer noch nicht alles. Die WG dreht durch, alle springen auf: Die Katze hat ins Katzenklo geschissen und der Geruch verbreitet sich in der ganzen Wohnung. Ich nehme nichts wahr. Panik steigt auf: Wird das jetzt so bleiben? Wann kann ich mich endlich auf Antikörper testen lassen?

Eigentlich hatte ich mich irgendwann gegen die Panik entschieden. Ab Mitte März ist mein Nachrichtenkonsum schlagartig angestiegen. Jedesmal, wenn ich Spiegel Online oder wdr.de checkte, dachte ich: „Die können doch nicht wirklich eine Ausgangssperre verhängen?“ Aber alles sah danach aus. Ich wusste, dass ich das nicht aushalten würde: vom Staat eingesperrt in meiner Wohnung. Manchmal bin ich gern mit mir allein, aber meistens nicht. Warum wohne ich immer noch allein? Warum habe ich nicht den Absprung geschafft aus dieser schönen Altbauwohnung in eine schöne Gemeinschaft. Ist es das, was diese Krise mir ganz persönlich zu sagen hat – danach verstärkt zu suchen?

Zwischendurch war ich wirklich verzweifelt. Ich dachte: Vielleicht hat sich das ungefähr so angefühlt, ein Jude oder Homosexueller oder expressionistischer Künstler zu sein nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Natürlich ist das ein vermessener Gedanke, weil ich in keiner lebensbedrohlichen Situation war und bin. Es ist ein Gedankenspiel, eine Spur, die ich seit der Schulzeit verfolge: Wie muss sich das anfühlen, wenn die gesellschaftliche Stimmung plötzlich umschlägt, feindselig wird? Man hört und liest die Nachrichten und will nicht glauben, wie sich alles neu ordnet und der eigene Platz schwindet. Plötzlich rufen alle nach Verboten, lechzen förmlich nach Ausgangssperren, nach der harten Hand des Staates. So stellt es sich zumindest in den Sozialen Medien dar: Ich lese auf Facebook die Kommentarspalten unter Corona-Artikeln: "Wie lange wollen unsere Politiker noch warten? Sie sind zu zögerlich!" "Sperrt die Leute endlich in ihre Wohnungen!" "Wer es jetzt noch nicht kapiert und noch draußen mit anderen auf einer Decke liegt gehört nach Sibirien!" Ich hatte es doch geahnt: Die Menschen, unter denen ich lebe, sehnen den Faschismus zurück, jetzt wieder ganz offen. Andersdenkende am besten gleich ins Lager.

Ich mache mir mein Frühstück und schaudere bei dem Gedanken an eine Ausgangssperre. Das Brot auf dem Brettchen verschwimmt, abwesend bestreiche ich es mit Aufstrich, lege eine Scheibe Käse darauf, führe es zum Mund. „Ich werde allein sein und es nicht aushalten“, denke ich, „alles wird zurückkommen: Die Angst, die Grübelspiralen. Ich werde es nicht aufhalten, mich nicht zerstreuen können.“ Ich schreibe Nachrichten an Freunde: „Könnte ich bei dir / bei euch unterkommen, wenn es Ausgangssperren gibt?“ Größere Gemeinschaften sagen mir ab: „Bei uns gibt es einige, die Angst haben. Einige gehören zur Risikogruppe. Wir haben im Plenum entschieden, keinen Besuch mehr zu empfangen.“ Zwei Freunde sagen mir schließlich zu, ein Paar bietet mir sogar ganz von selbst an: Du kannst in unser Arbeitszimmer ziehen. Ich bin erstmal beruhigt. Jetzt ist die Zeit der neuen Koalitionen. Man muss Verbündete finden, die nicht auf der Seite der Panik stehen, die bereit sind, dich zu verstecken vor den Schergen des Staates, der die Isolation predigt und oft 14-tägig verhängt. Einfach so. Aus der Wohnungstür gehen ist dann verboten. Wohin dann? Auf Dachböden? In Kellerlöcher? Hinter geheime Türen? #staythefuckhome leuchtet mir vom Bildschirm hundertfach aggressiv entgegen.

Ich denke: Für den europäischen Geist ist das die naheliegendste Lösung – es allein zu schaffen. Jeder kämpft für sich allein, kämpft sich durch, kämpft gegen das Virus, geht den anderen aus dem Weg, den universellen Fremden. Und ich verstehe in diesem konkreten Fall den Gedanken dahinter ja auch. Um die Kurve flach zu halten ist es zumindest sinnvoll, kleinere Kreise zu ziehen. Aber sich komplett zu isolieren, nur weil man zufällig keine Familie Zuhause hat? Und wieso besteht unsere Gesellschaft plötzlich nur noch aus "Kernfamilien", die zusammenleben? Was ist mit dem viel gerühmten Patchwork, mit den Wahlverwandschaften? Warum sagt unser Oberbürgermeister in seinen Videoansprachen nicht: "Suchen Sie sich jetzt eine nette Gruppen, mit der sie die nächsten Wochen verbringen möchten!" Ich schreibe ihm eine SMS: Deine Rhetorik ist zu hart. Lies bitte mal Sascha Lobos Essay zum Thema "Vernunftpanik".

Es ist jetzt viel von Solidarität die Rede, aber gemeint ist eine virtuelle Solidarität. Man postet bei Facebook, wie sehr man den Arbeitern und Angestellten in Supermärkten und Krankenhäusern dankbar ist, klatscht aus dem geöffneten Fenster. Ich klatsche nicht. Ich nutze meine Zeit auch nicht für Kreativität oder Dinge, „die ich schon immer einmal machen wollte“. Ich bin neidisch auf die, die im Supermarkt arbeiten. Sie haben etwas zu tun, sind unter Menschen. Ich habe noch ein paar wenige Artikel zu schreiben, dann wird nichts mehr zu tun sein: Es gibt keine Veranstaltungen mehr, die anzukündigen oder zu rezensieren sind. Auf unbestimmte Zeit. Gehe ich in die innere Emigration. Und die äußere.

Ich gehe nach Kassel. Die Stadt wirkt wie eine Kulisse ihrer selbst, in der niemand mehr Statisten bezahlen kann. Im Abenddunst steht der Herkules im Wilhelmshöher Bergpark, man kann ihn aus dem Erkerfenster in der WG erahnen. Ich sitzt in M.s Zimmer in einem Sessel in diesem Erker, klimpere auf der Gitarre. Ich spiele Songs aus dem Beatles-Complete-Songbook. Das ist ein Teil meiner Regression. Ich spiele diese Songs, die mich schon vor 32 Jahren glücklich gemacht haben, erinnere mich an kindliche Zustände, an die Masern-Quarantäne bei meinen Großeltern im abgedunkelten Zimmer. Was würden meine Großeltern zum Virus sagen, wenn sie noch lebten? Würden sie Nachbarn bitten, für sie einzukaufen oder würden sie selber gehen?

Sie würden mir einen Alltag schenken, in den ich mich reingeben kann. Genau wie die WG es jetzt tut. Ich kann dem Baby stundenlang den Bauch massieren bis es einschläft. Ich koche ein Risotto. Ich helfe morgens das Frühstück vorbereiten, nachmittags die Sachen packen für einen geheimen Ausflug zu viert (!) in den Park, abends beim Schnibbeln. Wir lesen uns vor, singen, spielen, sorgen für die Kinder und für uns selbst. Jeden Tag frage ich mich, ob ich zurück nach Hause fahren sollte. Aber Zuhause werde ich ein Fremder sein. Das Leben aus vielen Terminen und Treffen, die mich immer wieder neu auffangen, gibt es nicht mehr. Auf unbestimmte Zeit ausgesetzt, als wäre es nur optional. Das, was ich tue, was ich lebe, braucht eine Gesellschaft im Krisenmodus nicht. Vielleicht braucht sie es gar nicht.


Sonntag, 19. Januar 2020

Durch die Nacht mit Frank Castorf und Johan Simons

Nach dem zweiten langen Theaterabend in Folge, Johan Simons‘ großartigem „Iwanow“, lande ich in der Oval Office Bar des Schauspielhauses Bochum. Zwei Schauspielerinnen laufen kichernd hinter die Bar als wollten sie etwas Unerhörtes, Unerlaubtes tun. Aber sie kapern nur den Laptop und modifizieren die Spotify-Playlist. Ich kenne dieses Klavier-Intro. Es klingt so lieblich, aber der Schein trügt, gleich wird ein Sturm losbrechen. Ja, klar, das ist „Because The Night“ von Patti Smith. Menschen stürmen die Tanzfläche, Frauen, Männer und alles dazwischen. Sie schreien: „Weil die Nacht den Liebenden, weil die Nacht uns gehört!“

Ich schreie mit, vom Barstuhl aus und denke an Patti Smith‘ Auftritt vor zwei Sommern in Köln. Sie hatte ihren Arm verbunden und konnte nicht Gitarre spielen. Ich denke daran, wie unglaublich nah sie mir beim Lesen von „M Train“ gekommen ist, ich saß quasi regelmäßig mit an ihrem Lieblingstisch in ihrem Lieblingscafé. Ich denke daran, wie ich danach ihr Instagram-Profil entdeckt habe, in dem sie regelmäßig poetische, in Versen verfasst Posts absetzt und Fans wie mich an ihrem Leben, ihrem Denken und Fühlen teilhaben lässt. Ich denke: „Wenn sie stirbt, werde ich traurig sein, erschüttert. Es gibt keine Stimme wie ihre, die gleichzeitig so mütterlich tröstlich und kämpferisch ist. Ich werde nach New York fahren, zu ihrem Haus am Rockaway Beach und werde weinen. Ich konnte nicht weinen als Opa und Oma starben. Aber dann werde ich weinen.“

Natürlich sind diese Gedanken total drüber. Ich bin offenbar stark emotionalisiert, offen, verletzlich, verwundbar. Ich sollte nach Hause gehen. Die letzten zwei Nächte waren hart und gehörten nur bedingt mir selbst.

Der erste lange Theaterabend ging mir schon Tage vorher im Kopf herum. Als zweiten Auftrag (ever!) für das Portal Nachtkritik.de sollte ich Frank Castorfs Inszenierung „Aus dem bürgerlichen Heldenleben“ im Schauspiel Köln rezensieren. Mehrere Faktoren machen das zu keiner einfach Aufgabe: Konzept des Portals Nachtkritik.de ist, die Theaterkritiken bereits am nächsten Morgen gegen neun Uhr online zu stellen. Wenn man also nicht um sechs Uhr aufstehen will, und das will ich eigentlich nie, muss man noch nachts schreiben. Frank-Castorf-Inszenierungen dauern in der Regel allerdings fünf Stunden und länger, mit der Rückfahrt aus Köln würde ich also nicht vor ein Uhr zum Schreiben kommen. Außerdem hat Castorf in seiner langen Zeit als Intendant der Berliner Volksbühne das Theater revolutioniert und im gesamten deutschsprachigen Raum eine große Fangemeinde, die meinen Text sicher besonders genau und kritisch beäugen wird. Es wird der erste Text sein, der über das Stück erscheint. Ich kann mich nicht wie sonst bei der Nachtkritik rückversichern, ob ich alles richtig gesehen oder verstanden habe. Ich schreibe die Nachtkritik.

Ich bereite mich also auf einen langen, einsamen und arbeitsamen Abend vor. Ich lese mich in Sternheims Dramenzyklus „Aus dem bürgerlichen Heldenleben“ im Projekt Gutenberg ein (wie gut, dass es das gibt!), lese den Anfang seines „Europa“-Romans. Castorf will vier Kurzdramen und einen Roman in diesen Abend packen. Ist der wahnsinnig? Ja, klar, er ist wahnsinnig. Das ist bekannt. Aus meiner diffusen Erinnerung an eine seiner Inszenierungen bei der Ruhrtriennale schält sich vor allem ein Bild heraus: Auf der Bühne stand ein Pferd. Ich erinnere mich an eine Pressekonferenz bei den Ruhrfestspielen, bei denen der neue Intendant Olaf Kröck vorgestellt wurde mit der Hoffnung auf Kontinuität. Tief sitzt dort immer noch die Wunde, die Bürgerschreck Castorf mit einem kurzen Intermezzo geschlagen hat.

Ich schreibe der Nachtkritik-Redaktion: „Der Abend soll fünf bis sechs Stunden dauern. Mit Anfahrt, Schreiben und ein bisschen einlesen bin ich dann bei ungefähr zwölf Arbeitsstunden. Gibt es für solche Fälle die Möglichkeit, das Honorar anzupassen?“ Nein, gibt es nicht. Es gebe aber den Fame eines besonders viel gelesenen Artikels und dadurch vielleicht auch eine größere Ausschüttung von der VG Wort. Dabei ist der Fame doch genau das, was mir noch mehr Druck macht.

Immerhin bin ich plötzlich doch nicht allein. Meine Nachbarin will mitkommen, obwohl ich ihr die Aussichten für den Abend realistisch schildere: „Das Stück wird sehr lange dauern, wir werden möglicherweise nichts verstehen und oft angeschrien.“ Für die Fahrt hat sie Schokolade und Obst mitgebracht. Ich steuere Getränke und veganes Fastfood bei. „Das fand ich immer am schönsten an langen Autofahrten, dass man sich im Auto so häuslich einrichtet“, sagt sie und schält eine Orange. „Wir müssen uns ja gut stärken.“ Beim Aussteigen fällt ihr auf, dass sie keine Zeit mehr hatte, ihre Schuhe zu putzen. Auf einem wahrscheinlich mit Fingerfarbe rosa angemalten Fahrrad fährt ein Typ mit Wollmütze, Schnurrbart, Jogginghose und abgetretenen Sneakers vorbei und parkt vor dem Theater. „Aber schau doch mal“, sage ich, „wir könnten uns in Pfützen wälzen und wären nicht underdressed.“

Als ich den Theatersaal betrete, fällt mir ein, wann ich mich zum letzten Mal so gefühlt habe, wie jetzt: Als ich in den OP-Saal des Herner Krankenhauses geschoben wurde. Ich gebe mein Leben in fremde Hände, gebe die Kontrolle ab an Frank Castorf und sein Ensemble.

Als der Vorhang, der die gesamte Breite der großen ehemaligen Industriehalle des Carlswerks einnimmt, sich schwungvoll öffnet, weicht die Beklemmung Begeisterung. Wow, was für ein tolles Bühnenbild! Ein abgeranzter Salon, Wirtssaal, was weiß ich. Es nimmt das gesamte Sichtfeld ein, man kann den Blick schweifen lassen, wenn man wieder angeschrien wird, sich in Monologen und Text-Verschnitten verheddert und verliert, wenn die Schauspieler*innen auf einmal nur noch für Kameras spielen und wir auf eine Videowand starren, wenn Schweiß von der Stirn tropft: Was soll ich denn dazu schreiben?

„Hast du irgendeine Ahnung, worum es ging?“, frage ich meine Nachbarin in der Pause. „Nein, nicht wirklich“, sagt sie. Aber dieser Umstand scheint sie nicht im geringsten zu belasten. Sie wirkt zufrieden, hat Lust auf die zweite Hälfte. In meinem Kopf gärt es: Vielleicht ist das das Geheimnis von Castorfs Theater. Worum es geht, ist keine relevante Frage mehr. Es geht um die darstellende Kunst an sich, für sich. Und das wiederum stimmt auch nicht ganz, denn im weiteren Gespräch schält sich doch heraus, wie viel uns ganz selbstverständlich klar ist: Es geht um Deutschland und Europa in der Zeit vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg, um die Atmosphäre dieser Jahre, die Geisteshaltung, die Politik, die Armut, die gesellschaftliche Zersplitterung, verfallende Moral, Machtgelüste, niedere Instinkte.

Um drei Uhr habe ich meinen Text geschrieben, lese ihn noch zweimal, schicke ihn ab. Gedanken schießen durch den Kopf: „Ich mache mich lächerlich. Danach wird mich niemand mehr engagieren.“ Aber auch: „Das wird ein grandioser Erfolg. Danach werden mir alle Türen offen stehen.“ Ich setze mich 15 Minuten aufs Kissen, müde, aber es muss sein, denn danach denke ich auch: „Die Wahrheit wird irgendwo dazwischen liegen. Da liegt sie immer. Nicht da und nicht dort. Es war ein Auftrag und du hast dir Mühe gegeben, ihn gut zu erfüllen.“

Fünf Stunden später wache ich auf, für Castorf wäre also zu wenig Zeit gewesen, meinen Traum zu inszenieren, tapse in die Küche und trenne mein Smartphone vom Ladekabel. Die Nachtkritik-Redaktion schreibt: „Wenn sich das nicht gelohnt hat! Ein brillanter Text mit einem herrlichen Drive.“ Wow. So ein Lob bekommt man selten von Redaktionen. Das größte Lob ist normalerweise gar keine Reaktion und eine weitgehend unveränderte Veröffentlichung. Ich versuche, nicht zu viel Stolz zuzulassen, noch etwas zu schlafen. Beim nächsten Blick auf das Smartphone eine weitere Mail: Ob die Kommentatorin Recht habe, dass ich in einer Passage eine Schauspielerin verwechselt habe? Bestimmt hat sie Recht. Zwei Schauspielerinnen, die ich vorher nicht kannte, haben im quasi identischen Kostüm gespielt. Wie machen das andere Theaterkritiker*innen? Ich komme mit einem Haufen diffuser Erinnerungen, fragmentarischer Notizen und großen Fragezeichen nach Hause und Google hilft auch nicht immer.

Ein*e weitere*r Kommentator*in schreibt: Das Bühnenbild ist doch ein Nachbau von Clärchens Ballhaus in Berlin! Scheiße, ich hab irgendwas von Sommerfrische-Salon in den Alpen geschrieben. Hätte ich das wissen müssen? Immer geht das jetzt so weiter: Ich habe die Performance einer Schauspielerin als „lustlos“ beschrieben. Unverschämt sei das! Für eine fünfstündige Leistung! Ich möchte gern antworten: „Aber ich habe das doch nur im Castorf-Kontext gemeint: Also ‚lustlos‘ als stilistisches Merkmal, eigentlich total toll, vor allem an dieser zentralen Stelle“, aber ich halte mich zurück. Sollte man das tun – als Autor in Diskussionen einsteigen? Ich muss da mal nachfragen. Dann noch ein Kommentar, fast so lang wie mein Text: Mein Pina-Bausch-Vergleich, der wäre ja wohl sowas von daneben. Und meine generellen Aussagen zu Castorfs Theater, das stimme doch so nicht.

Aber wie sagt dieses Beckett-Zitat, das man manchmal auf Gästetoiletten von Bildungsbürgern findet: „Try again, fail again, fail better.“ Nach einem Nachmittag im Gemeinschaftsgarten, ich habe wild wuchernde Rosen beschnitten, hole ich mir also meine Pressekarte für Johan Simons‘ Tschechow-Inszenierung „Iwanow“ in Bochum ab. „Versteh mich nicht falsch“, sagt der Pressesprecher, „du bist ja ein guter Autor. Aber ist das nicht überraschend, dass du für die Nachtkritik über Castorf schreiben durftest? Ich meine: Die Nachtkritik! Castorf! Du!“ (oder so ähnlich) Und er hat natürlich Recht. Wieso ist das überhaupt passiert?

„Drei Stunden vierzig“, sagen die beiden Freundinnen, die zufällig vor mir sitzen, und schicken ein leises Stöhnen hinterher. „Vorher hieß es ja noch drei Stunden dreißig, aber diese ‚vierzig‘, die gibt jetzt ja schon zu denken.“ „Ich war gestern bei Castorf“, erzähle ich, „und es ging sechs Stunden.“ Sie schauen mich mitleidig an, aber können nichts mehr erwidern. Der Feuerschutzvorhang beginnt sich langsam zu öffnen, gibt den Blick frei auf ein wieder phantastisches Bühnenbild. Jens Harzer als Iwanow ist großartig. Ein gar nicht so entfernter Verwandter von Sandra Hüllers Hamlet. Am Ende dauert das Stück sogar vier Stunden, endet mit einem grandiosen Dialog zwischen Iwanow und seiner Sascha. Ich denke: „Was für ein Glück. Diese zwei Theaterabende waren ein Glück.“ Der Schuss fällt, mit dem der Protagonist sich das Leben nimmt. Ein Zuschauer im Rang seuzt: „Das wurde aber auch Zeit.“

„Was für ein Idiot“, denke ich, muss aber unweigerlich lachen, bremse mich und höre nochmal hin: Diese Musik, die fast die gesamte Inszenierung am äußersten Rand der Wahrnehmung zu hören war, oder das, was mein Gehirn als weit entfernte Musik interpretiert hat: Ist es immer noch zu vernehmen? Ist es vielleicht die Oval Office Bar, die im Keller schon ihre Party gestartet hat?

Vielleicht haben Patti Smith und ihre Kolleg*innen mich also schon vorher, noch im Theatersaal, in diese Nacht geleitet. Und vielleicht lief Patti Smith schon, bevor die beiden Schauspielerinnen die Spotify-Playlist gestürmt haben, sie stand also auf der Ur-Playlist. Erinnert sich noch jemand? Ich bin mit dieser kleinen Situation in den Text eingestiegen. So wie sie vielleicht gar nicht stimmt, stimmen auch viele andere Sachen, die ich schriftlich fixiere, ganz sicher nicht hundertprozentig mit der Realität überein. Die Schauspielerin, die mit ihrer Kollegin einen Text unisono sprach, hieß anders. Der Alpen-Salon ist ein Berliner Ballhaus. Der Pina-Bausch-Bezug macht maximal in einer nebensächlichen Hinsicht Sinn. Aber was soll ein Theatertext verkünden? Die absolute Wahrheit über einen Abend? Oder wie er auf einen so und so strukturierten und vorgeformten Geist gewirkt hat? `

Warum schreibt im Journalismus eigentlich niemand mehr wie Wolfgang Welt?

In der Pause überlegten wir, ob wir nochmal zum Auto gehen, Restproviant essen. Aber an der Bar im Foyer gab es auch Spitzkohl-Eintopf mit angebratenen Maultaschen, bezahlbar. Was machte eigentlich der Bochumer Lokaljournalist Sven Westerströer hier? War der Castorf-Fan? Musste ich ihn beizeiten mal drauf ansprechen. Zuletzt hatte sich unser Verhältnis allerdings etwas abgekühlt. Seit ich bei seinem Chef angefragt hatte, ob ich auch mal für die WAZ Bochum schreiben kann, sah er mich vielleicht als Konkurrenz.

So in dem Stil halt… radikal subjektiv. Ich werde an meinen Tisch im Café 'ino gehen und darüber nachdenken.