Freitag, 10. April 2020

Corona-Tagebuch: Karfreitagsgedanken

Es ist ein merkwürdiger Karfreitag. Wer heute einen Tanz veranstaltet, gilt nicht als Feiertagsbrecher*in, sondern verstößt gegen das Infektionsschutzgesetz oder die Moral, gilt als egoistisch, hedonistisch und sowas. „Das Leben des Brian“ schauen die Assoziierten der Initiative „Religionsfrei im Revier“ wahrscheinlich nur vereinzelt in privaten Rahmen. Was viele heute vielleicht nicht mehr wissen: An Karfreitag finden nicht nur illegale Autorennen statt („Car-Freitag“), Christen gedenken auch des Leidens und Sterbens Jesus‘ am Kreuz. Ob einige von ihnen dabei wirklich bedenken, was es bedeutet, in einer Welt zu Leben, in der jemand an ein Kreuz genagelt wurde, der in aller Radikalität nach diesem Gebot gelebt hat: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“? Und: Bedenken wir wirklich, was es bedeutet, in einer Welt zu leben, in der Tod und Sterben eine unausweichliche Realität darstellen? Diese Frage stellt sich mir seit Beginn der Corona-Krise jedenfalls immer lauter.

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Diesen Satz jetzt hier so hinzuschreiben und dann eigene Gedanken folgen zu lassen, erinnert mich an all die evangelischen und freikirchlichen Predigten, die ich in meinem Leben hören musste und die mir nicht immer gut bekommen haben. Aber nun gut, trotzdem weiter: Das Gebot der Selbst- und Nächstenliebe ist derart radikal, dass es die Welt aus den Fugen heben würde, befolgten die Menschen seine Aufforderung in letzter Konsequenz. Sie würden anfangen, sich selbst lieben! Und dann – im Prinzip – auch alle anderen, denn anders geht es ja nicht. Der Satz war (und ist) natürlich viel zu radikal für die christliche Kirche, die ja weiter das Bild des wütenden, eifersüchtigen, irgendwie egozentrischen Gott mit sich rumgeschleppt hat, das es im Alten mindestens auch gibt, und einen Einklang beider Bilder suchte, der schwer zu finden ist. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ könnte man eher im Buddhismus verorten. Thich Nhat Hanh entwickelt schöne Gedanken dazu in „Jesus and Buddha as Brothers“, das ich im vielleicht schönsten Buchladen der Welt, dem Boulder Book Store, hinterm Schrank in der spirituellen Ecke fand. Aber was hat das jetzt mit Corona zu tun?

Ich bin nicht sicher, ob die Menschen in unserer Kultur gerade in erster Linie aus Nächstenliebe handeln wie sie handeln – oder aus Angst. Ich würde schon sagen, dass es ein Akt der Nächstenliebe ist, eine erstmal ja für das einzelne Gesellschaftsmitglied ziemlich abstrakt erscheinende Gruppe aus Alten und Vorerkrankten durch Kontaktverbote zu schützen und dabei allerhand zu riskieren: Die schlimmste Befürchtung scheint in der öffentlichen Diskussion die einer großen Wirtschaftskrise zu sein. Das wundert wenig, denn obwohl Kritik am Kapitalismus und seiner Wachstumslogik aus unterschiedlichsten Richtungen wieder und weiter sehr stark ist, gibt es doch kein alternatives Konzept, an das eine größere Mehrheit glauben mag. Am Rande gibt es weitere Befürchtungen: Vereinzelt tauchen Stimmen auf, die vor psychischen Folgen der sozialen Isolation warnen, vor Suiziden, vor häuslicher Gewalt. In meiner Wahrnehmung wird darüber allerdings eher wenig berichtet. Über Suizide ja sowieso generell kaum und wenn, dann nur sehr rudimentär, weil man Nachahmungstäter befürchtet wie damals als Goethes „Leiden des jungen Werther“ erschienen.

Also ja: Alte und schwache Mitglieder zu schützen ist ein gesamtgesellschaftlicher Akt der Nächstenliebe. Doch wenn ich die Kommentarspalten unter Corona-Artikeln im Facebook lese oder die Ansichten Bekannter und Freunde vernehme, dann lese ich daraus auch sehr viel und sehr existenzielle Angst, Verunsicherung. Leider nicht nur das. Es ist auch eine Sehnsucht nach dem faschistischen Staat, die ich aus endlosen Kommentaren zu lesen glaube, eine Sehnsucht nach der Beschneidung aller Freiheitsrechte, nach harten Kontrollen und Strafen durch einen Polizei- oder sogar Armeeapparat, wenn es die Umstände nur gebieten.

Wahrscheinlich wird die derzeitige Lage mein Weltbild auch für die Zeit nach Corona nachhaltig erschüttern. Eigentlich wollte ich mich nie zu sehr auf die Seite von Panik und Paranoia ziehen lassen. Ich fand es albern, wenn Freunde die Kameras ihrer Laptops oder Smartphones zugeklebt hatten oder bei harmlosen Gesprächen darum baten, das Smartphone außer „Mithör-Reichweite“ zu legen. Ich hatte ein Grundvertrauen in unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung – und dass der Staat auch eine neue Wirtschaftsordnung in Kauf nehmen würde, wenn eine Mehrheit seiner Bürger dafür wäre. Heute bin ich unsicher: Vielleicht hört ja doch wer mit, wenn das Smartphone in der Nähe liegt, weil man aus bestimmten Gesprächsverläufen schließen kann, ob jemand infiziert ist. Vielleicht stellen Telefongesellschaften Bewegungsprofile nicht nur anonymisiert zur Verfügung.

Im vergangenen Sommer, als ich mich frei und in jeder Art Gesellschaft durch große Teile dieser Welt bewegen konnte, habe ich an der Ruhr den schmalen Band „Unverfügbarkeit“ des Soziologen Hartmut Rosa gelesen. Er wendet darin seine große Theorie der „Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung“ auf konkrete Lebensbereiche an. Ich fand das super erhellend: Rosa knüpft unter anderem an die Kritische Theorie von Horkheimer und Adorno an, wenn er sagt: Das Projekt der Moderne ist eins der Verfügbar- und Erwartbarmachung von Welt. Wir Menschen glauben, alles unter Kontrolle gebracht zu haben. Wir kennen jeden Winkel der Erde (und des Universums), haben allen Dingen einen Namen gegeben. Wir können vermeintlich nicht nur Wirtschaftsbeziehungen statistisch erfassen, sondern auch Lernerfolge, Liebesfähigkeit. Wir glauben zu wissen, was (und wie lange) wir vom Leben erwarten können und – damit komme ich zurück zum Anfangsgedanken – auch vom Sterben.

Wir schlafen im Fernsehsessel ein, kippen mit der E-Gitarre im Arm von der Bühne, sacken beim Spazierengehen zusammen oder sterben mit superguter Palliativmedizin quasi unmerklich im Krankenhaus. Aber wir sterben doch nicht an einem durchgedrehten Virus. Wo kommen wir denn dahin? Wofür all die Krankenhäuser, Medizinunternehmen, Universitäten und Labore?

Was überwiegt also gerade? Die Liebe oder die Angst – auch um das eigene Leben? Wir blicken uns erschrocken an im Supermarkt: Hatte sie nicht gerade noch ein Taschentuch an der Nase, in der Hand? Da ist jemand mit einer dunkleren Hautfarbe als meine. Vielleicht stinkt er nicht nur, hat keine Manieren oder geringere Intelligenz, vielleicht trägt er auch das Virus. Das Virus ist das Fremde, Unverfügbare, nicht berechenbare Element. So etwas darf es nicht geben. Es konfrontiert uns mit den großen Fragen unserer Existenz, die niemand beantworten kann.

Schön wäre, wenn viele Menschen die Zeit der Kontaktreduzierung nutzen würden, einen Tag wie diesen Karfreitag, um ihren Frieden mit dieser unklaren Situation zu finden, wenn sie dem Leben auch nach Corona mit etwas mehr Demut begegnen könnten.

Eine Freundin hat gestern ihr Telegram-Profilbild geändert. Zu sehen ist ein gezeichneter Mond und drei Feststellungen:
1. We are in space
2. No one knows what’s going on
3. I love you