Mittwoch, 6. Mai 2020

Corona-Tagebuch: Freihändig Fahrrad fahren

Wie hat sich die Corona-Krise angefühlt? Das Gefühl der Nutzlosigkeit, des Beschränkt- und Eingesperrtseins wich manchmal dem großer Freiheit. Ich blieb bis zum Nachmittag im Bett und überprüfte, was mir einst ein Psychologe erklärt hatte: „Sie können gar nicht einfach immer liegen bleiben. Irgendwann müssen sie aufstehen.“ Wie um ihm das Gegenteil zu beweisen, bleibe ich noch eine Stunde länger liegen und tue nichts. Nehme ab und zu das Smartphone zur Hand. Schaue an die Decke. Denke nach, aber nicht zu angestrengt. Dann wird es zu warm, mein Rücken tut weh und mein Kopf auch. Ich setze mich an den Laptop und formuliere Fragen an den Philosophen Byung-Chul Han: „In Ihrem Essay ‚Kapitalismus und Todestrieb‘ schreiben Sie, unsere spätkapitalistische Gesellschaft habe den Tod aus dem Leben verdrängt: ‚Die Hysterie der Gesundheit ist die biopolitische Erscheinung des Kapitals selbst.‘ Sehen Sie in den Maßnahmen zur Eindämmung des Virus eine Erscheinung dieser Gesundheits-Hysterie?“ Ob er überhaupt antworten wird? In einer überraschend schnellen Reaktion auf meine erste Mail hat er mir gestattet, ihm Fragen zu schicken, falls ich eine Zusage für die Veröffentlichung des Interviews bekommen würde. Mittlerweile haben mir drei Medien feste Zusagen gegeben, aber Byung-Chul Han antwortet nicht mehr. Was kann ich tun? Ihn auf seine Zusage festnageln? Seine Telefonnummer herausfinden? Hatte Byung-Chul Han vielleicht gar kein Telefon und ruft auch nur selten seine Mails ab, weil er den größten Teil seiner Tage dafür reserviert, den Duft der Zeit zu vernehmen? Meine Kopfschmerzen werden stärker. Ich muss raus. Ja, der Psychologe hatte Recht: Ich kann weder den ganzen Tag im Bett liegen, noch einfach mal in der Wohnung bleiben. Ich muss raus. An der Boule-Bahn schlurfen ein paar Nachbarn herum, was mich freut: Sie sind immer da – mit oder ohne Corona. Ich mag Konstanten, gerade in Krisenzeiten. Aber ich spüre, es wird nicht reichen, jetzt da bei ihnen zu stehen, vielleicht mitzuspielen. Ich habe so viel Zeit im Bett und am Computer verbracht, also quasi in Gefangenschaft, muss jetzt Freiheit spüren. Ich setze mich aufs Fahrrad und fahre die Wittener Straße herunter, dann links rein. Durch ein Wohngebiet, das ich noch nicht kenne. Manchmal reicht das schon, um ein Gefühl von Freiheit zu spüren: einmal kurz von den bekannten Wegen abweichen. Zwei, drei Straßen, die ich noch nie gesehen habe, bedeuteten: Ich kann mir ein Stück neue Welt aneignen, auch in Zeiten von Corona. Davon will ich mehr. Ich fahre freihändig am alten Friedhof vorbei. Freihändig Fahrrad fahren. Das konnte ich eigentlich nie. Das machte mich unsicher. Ich geriet ins Wanken. Jetzt war es auf einmal kein Problem. Hatte das Virus meinen Gleichgewichtssinn repariert? Leute, könnt ihr das sehen? Ich fahre freihändig! Und ihr? Warum tragt ihr Mund-Nase-Masken? Draußen? Auf dem Fahrrad? Verrückte Welt! Links der Friedhof, rechts das Gelände der alten Stadtgärtnerei. Sollte das nicht längst bebaut werden? Im Moment sprießen Rasen und Unkraut in sattem Grün. Da stehen irrsinnig schöne, alte, große Bäume. Mensch, was für eine Platane! Hoffentlich wird sie nicht gefällt für hässliche Wohngebäude. Vorbei am alten Café Havkenscheid, das jetzt eine elegante Bungalow-Wohnung ist, in der eine Kunst-Kuratorin stilvoll wohnen könnte wie Colin Firth in „A Single Man“. Aber sie hat ein Kind und deswegen liegen überall Spielsachen herum. Ich fahre freihändig an der Müllkippe vorbei, die nicht stinkt, vorbei auch am großen Möbelhaus und dem riesigen, ehemaligen Opelgelände, das jetzt für Logistik-Dienstleiter und innovative Start-Ups klar gemacht wird. Kann man dort schon mit dem Fahrrad herumkurven? Vielleicht ist es noch zu früh, überall stehen Bauzäune wie gerade um die Spielplätze. Dafür zwei Runden um den Ümminger See. Vielmehr Halbrunden, weil nur auf der Ostseite noch Sonne ankommt. Die will ich mitnehmen. Eine Kugel Bananeneis mit Blick auf die kleine Insel in der Seemitte. Gänse und Vögel schreien von dort unablässig. Was ist wohl los? Sollte vielleicht einmal jemand nachschauen? Steht irgendwo ein Ruderboot? Ihr Getöse wird grundiert vom Rauschen, Brummen und Knattern der Autobahn, die westlich des Sees verläuft. Im Ruhrgebiet verläuft ja immer irgendwo eine Autobahn. Deswegen ist der mir häufig geschehene Schreibfehler „Ruhegebiet“ gänzlich falsch, nicht zutreffend. Es herrscht wieder viel Verkehr. Die Leute haben offenbar keinen Bock mehr auf Quarantäne. Weiter in den Stadtteil Langendreer, der Bochum-intern L.A. abgekürzt wird. Ich stelle mir das richtige L.A. groß vor, irrsinnig groß: Alle Straßen haben acht oder zwölf Spuren und führen durch endlose Einkaufszentren und zersiedelte Vororte in die Hügel, wo die Reichen wohnen. Das Bochumer L.A. hat Gewerbegebiete und acht-, zwölf- oder noch-mehr-gleisige Güterbahnhöfe, die teilweise stillgelegt sind. Ich bin wieder ein kleiner Junge, den die Enge der Wohnung mit ihren Mit-Insassen (oder sind sie Wärter?), chronisch streitenden Eltern, in den Sommerferien nach draußen treibt zu den stillgelegten Eisenbahnschienen. Obwohl hier schon lange kein Zug mehr fährt, das kann man erkennen am Rost auf den Schienen, hat mir ein Erwachsener erklärt, bergen sie ein Versprechen: Es führt ein Weg weg von hier. Die Schienen in L.A., also dem Bochumer L.A. sind von kleinen Sträuchern und Birken-Nachkommen zugewuchert. Zwischen hellgrünen Blättern blitzt das Metall im letzten Sonnenlicht und versetzt mir einen Sehnsuchts- und Melancholie-Stich. Wohin hat der Weg mich geführt? Nach Bochum. Auf diese abgefahrene, von hohen Bäumen gesäumte Pflastersteinstraße, die in Richtung Westen leicht ansteigt, so dass sie endlos wirkt, weil sie aus dieser Perspektive den Horizont bildet. Ich muss sie entlang fahren Richtung Sonne, die sich langsam dem anderen Horizont, es gibt ja immer einen anderen Horizont, annähert. Die Pflastersteine rütteln und schütteln mich und plötzlich wird mir klar: Ich kenne diese Straße. Sie heißt Hohe Eiche. Hier ist das Figurentheater-Kolleg in einem schönen, alten Backstein-Schulgebäude und vor ungefähr knapp drei Jahren kam hier eine Frau, die ich irgendwie mochte, aus der großen Eingangstür und wir gingen in den nahen Volkspark Langendreer, um uns zu streiten. Sie erklärte mir, dass man in Beziehungen Verantwortung übernehmen müsse, verbindlich sein. Ich fand, dass man nach erst zwei vorangegangenen Treffen doch überhaupt noch gar nicht von einer Beziehung sprechen konnte oder sollte. Schon gar nicht von einer, in der man Verantwortung zu übernehmen hatte. Das war doch irgendwie unzulässig. Gleichzeitig fiel mir auf, wie schön dieser Park war. Leicht verwildert, mit Sitzgelegenheiten, die sicher seit Jahrzehnten nicht verändert und auch nicht gesäubert worden waren. Mit Objekten, bei denen man nicht wusste, ob sie moderne Ruinen oder Skulpturen oder zufällige Bauten junger Menschen waren, denen überschüssige Sommerferien-Energie, Backsteine und Beton zur Verfügung stand. Mich erinnerte dieser Park an Maryon Park in London, dem Drehort der tollsten Szene in Michelangelo Antonionis Film „Blow Up“, den ich sehr liebe. Auch im Maryon Park hat sich seit Jahrzehnten nichts verändert und als ich ihn vor ungefähr zehn Jahren betrat, war das wie Michelangelo Antonionis Film zu betreten. Und wenn man über Bochums Straßen freihändig nach L.A. und London, zu vergangenen Liebschaften und die Sommerferien der Kindheit fahren konnte, dann hatte ich es doch weit gebracht. So hat es sich angefühlt. Und auch ein bisschen wie eine Grippe. Aber dazu später mehr.