Samstag, 31. Dezember 2011

2011

Wenn ein Jahr zu Ende geht, hat man es gerne rund. Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass ein Großteil der aufgeklärten Menschheit den Weltuntergang im nächsten Dezember für wahrscheinlich hält. Wir suchen einen Nenner, auf den wir das ganze Erinnerungsgerümpel aus guten wie aus schlechten Zeiten bringen können. Waren es in 2011 mehr gute als schlechte Zeiten? Frage ich mich selbst. Ich glaube: ja. Und bin dankbar. Vielleicht werde ich deshalb heute mal wieder beten. Das mache ich nämlich auch immer seltener. Beten ist ein bisschen wie meditieren, nur mit mehr Nachdenken, Reflektieren, ehrlich zu mir selber sein (was gar nicht so einfach ist, weil Selbst-Belügen leicht Gewohnheit wird). Manchmal tue ich unwillkürlich etwas ähnliches wie beten, morgens, während des Aufwachens oder direkt danach.

Heute, am 31. Dezember, maß ich dem besondere Bedeutung zu: Das Jahr wird schon bald ein für alle mal zu Ende sein und jeder heutige Gedanke ist ein Resümee. Und was kam mir in den Sinn? Tino Hanekamps "Sowas von da". Ein Roman über die eine, letzte, große Party vor Club-Abriss. Der Ich-Erzähler trägt stets Marc Aurels "Selbstbetrachtungen" mit sich und zitiert bisweilen daraus. Ich glaube, ich habe von beiden viel gelernt: Vom Ich-Erzähler und von Marc Aurel. Beide halten ein Ideal hoch: Wandlung, Veränderung anzunehmen. Der römische Kaiser drückte das vor fast zweitausend Jahren so aus:

"Alles entsteht durch Verwandlung und die Natur liebt nichts so sehr, als das Vorhandene umzumodeln und Neues von ähnlicher Art zu erzeugen. Jedes Einzelwesen ist gewissermaßen der Same eines zukünftigen, und es wäre eine große Beschränktheit, nur das als ein Samenkorn anzusehen, was in die Erde oder in den Mutterschoß geworfen wird."

Da mein Exemplar von "Sowas von da" momentan als Dauerleihgabe im Zimmer meines kleinen Bruders verschimmelt, kann ich nur ungefähr wiedergeben, was der Erzähler aus Passagen wie diesen lernt: Nicht festzuhalten, offenen Herzens sich den Metamorphosen des Lebens hingeben, das Geld aus der Kasse nehmen und irgendwo neu anfangen. Letzters habe ich in 2011 wohl nicht getan. Aber ich war zwischenzeitlich bereit dazu und vielleicht generell bereiter als früher. Bereiter. Das Wort gibt es doch garantiert nicht.

In meinem stillen Gebet fällt mir noch etwas ein: Gerade gestern noch habe ich "Sowas von da" einem Freund empfohlen. Als heilende Lektüre für seine angeschlagene Freundin (2011 übrigens auch: das Jahr der Depressionen). Der Buchhändler erklärte uns, dass er bis vor einer Stunde noch zwei Exemplare des Romans im Bestand gehabt hätte, die dann jedoch plötzlich weggekauft worden seien. Es muss also in der Luft liegen: Die Menschheit braucht dieses Buch zum Jahresende. "Wer hat es gekauft", fragt ich ihn, "Leute in unserem Alter?"
- "Naja, ich würde sagen, so Mitte Ende zwanzig"
- "Mitte Ende zwanzig", denke ich, "also ganz schön unverschämt, dass er nicht mit Ja geantwortet hat."

Aber vielleicht muss ich mich mit dieser Alters-Sache auch mal abfinden und endlich einen vollends abgerundeten und erwachsenen Charakter entwickeln. Mich beruhig, dass auch Marc Aurel das scheinbar nie geschafft hat. Tadelnd spricht er zu sich selbst:

"Noch immer bist du nicht ohne Falsch, nicht ohne Leidenschaft, nicht frei von dem Vorurteil, dass Äußeres dem Menschen schaden könne, nicht sanftmütig gegen jedermann und noch immer nicht überzeugt, dass Gerechtigkeit die einzig wahre Klugheit ist."

Amen.