Mittwoch, 6. Mai 2020

Corona-Tagebuch: Freihändig Fahrrad fahren

Wie hat sich die Corona-Krise angefühlt? Das Gefühl der Nutzlosigkeit, des Beschränkt- und Eingesperrtseins wich manchmal dem großer Freiheit. Ich blieb bis zum Nachmittag im Bett und überprüfte, was mir einst ein Psychologe erklärt hatte: „Sie können gar nicht einfach immer liegen bleiben. Irgendwann müssen sie aufstehen.“ Wie um ihm das Gegenteil zu beweisen, bleibe ich noch eine Stunde länger liegen und tue nichts. Nehme ab und zu das Smartphone zur Hand. Schaue an die Decke. Denke nach, aber nicht zu angestrengt. Dann wird es zu warm, mein Rücken tut weh und mein Kopf auch. Ich setze mich an den Laptop und formuliere Fragen an den Philosophen Byung-Chul Han: „In Ihrem Essay ‚Kapitalismus und Todestrieb‘ schreiben Sie, unsere spätkapitalistische Gesellschaft habe den Tod aus dem Leben verdrängt: ‚Die Hysterie der Gesundheit ist die biopolitische Erscheinung des Kapitals selbst.‘ Sehen Sie in den Maßnahmen zur Eindämmung des Virus eine Erscheinung dieser Gesundheits-Hysterie?“ Ob er überhaupt antworten wird? In einer überraschend schnellen Reaktion auf meine erste Mail hat er mir gestattet, ihm Fragen zu schicken, falls ich eine Zusage für die Veröffentlichung des Interviews bekommen würde. Mittlerweile haben mir drei Medien feste Zusagen gegeben, aber Byung-Chul Han antwortet nicht mehr. Was kann ich tun? Ihn auf seine Zusage festnageln? Seine Telefonnummer herausfinden? Hatte Byung-Chul Han vielleicht gar kein Telefon und ruft auch nur selten seine Mails ab, weil er den größten Teil seiner Tage dafür reserviert, den Duft der Zeit zu vernehmen? Meine Kopfschmerzen werden stärker. Ich muss raus. Ja, der Psychologe hatte Recht: Ich kann weder den ganzen Tag im Bett liegen, noch einfach mal in der Wohnung bleiben. Ich muss raus. An der Boule-Bahn schlurfen ein paar Nachbarn herum, was mich freut: Sie sind immer da – mit oder ohne Corona. Ich mag Konstanten, gerade in Krisenzeiten. Aber ich spüre, es wird nicht reichen, jetzt da bei ihnen zu stehen, vielleicht mitzuspielen. Ich habe so viel Zeit im Bett und am Computer verbracht, also quasi in Gefangenschaft, muss jetzt Freiheit spüren. Ich setze mich aufs Fahrrad und fahre die Wittener Straße herunter, dann links rein. Durch ein Wohngebiet, das ich noch nicht kenne. Manchmal reicht das schon, um ein Gefühl von Freiheit zu spüren: einmal kurz von den bekannten Wegen abweichen. Zwei, drei Straßen, die ich noch nie gesehen habe, bedeuteten: Ich kann mir ein Stück neue Welt aneignen, auch in Zeiten von Corona. Davon will ich mehr. Ich fahre freihändig am alten Friedhof vorbei. Freihändig Fahrrad fahren. Das konnte ich eigentlich nie. Das machte mich unsicher. Ich geriet ins Wanken. Jetzt war es auf einmal kein Problem. Hatte das Virus meinen Gleichgewichtssinn repariert? Leute, könnt ihr das sehen? Ich fahre freihändig! Und ihr? Warum tragt ihr Mund-Nase-Masken? Draußen? Auf dem Fahrrad? Verrückte Welt! Links der Friedhof, rechts das Gelände der alten Stadtgärtnerei. Sollte das nicht längst bebaut werden? Im Moment sprießen Rasen und Unkraut in sattem Grün. Da stehen irrsinnig schöne, alte, große Bäume. Mensch, was für eine Platane! Hoffentlich wird sie nicht gefällt für hässliche Wohngebäude. Vorbei am alten Café Havkenscheid, das jetzt eine elegante Bungalow-Wohnung ist, in der eine Kunst-Kuratorin stilvoll wohnen könnte wie Colin Firth in „A Single Man“. Aber sie hat ein Kind und deswegen liegen überall Spielsachen herum. Ich fahre freihändig an der Müllkippe vorbei, die nicht stinkt, vorbei auch am großen Möbelhaus und dem riesigen, ehemaligen Opelgelände, das jetzt für Logistik-Dienstleiter und innovative Start-Ups klar gemacht wird. Kann man dort schon mit dem Fahrrad herumkurven? Vielleicht ist es noch zu früh, überall stehen Bauzäune wie gerade um die Spielplätze. Dafür zwei Runden um den Ümminger See. Vielmehr Halbrunden, weil nur auf der Ostseite noch Sonne ankommt. Die will ich mitnehmen. Eine Kugel Bananeneis mit Blick auf die kleine Insel in der Seemitte. Gänse und Vögel schreien von dort unablässig. Was ist wohl los? Sollte vielleicht einmal jemand nachschauen? Steht irgendwo ein Ruderboot? Ihr Getöse wird grundiert vom Rauschen, Brummen und Knattern der Autobahn, die westlich des Sees verläuft. Im Ruhrgebiet verläuft ja immer irgendwo eine Autobahn. Deswegen ist der mir häufig geschehene Schreibfehler „Ruhegebiet“ gänzlich falsch, nicht zutreffend. Es herrscht wieder viel Verkehr. Die Leute haben offenbar keinen Bock mehr auf Quarantäne. Weiter in den Stadtteil Langendreer, der Bochum-intern L.A. abgekürzt wird. Ich stelle mir das richtige L.A. groß vor, irrsinnig groß: Alle Straßen haben acht oder zwölf Spuren und führen durch endlose Einkaufszentren und zersiedelte Vororte in die Hügel, wo die Reichen wohnen. Das Bochumer L.A. hat Gewerbegebiete und acht-, zwölf- oder noch-mehr-gleisige Güterbahnhöfe, die teilweise stillgelegt sind. Ich bin wieder ein kleiner Junge, den die Enge der Wohnung mit ihren Mit-Insassen (oder sind sie Wärter?), chronisch streitenden Eltern, in den Sommerferien nach draußen treibt zu den stillgelegten Eisenbahnschienen. Obwohl hier schon lange kein Zug mehr fährt, das kann man erkennen am Rost auf den Schienen, hat mir ein Erwachsener erklärt, bergen sie ein Versprechen: Es führt ein Weg weg von hier. Die Schienen in L.A., also dem Bochumer L.A. sind von kleinen Sträuchern und Birken-Nachkommen zugewuchert. Zwischen hellgrünen Blättern blitzt das Metall im letzten Sonnenlicht und versetzt mir einen Sehnsuchts- und Melancholie-Stich. Wohin hat der Weg mich geführt? Nach Bochum. Auf diese abgefahrene, von hohen Bäumen gesäumte Pflastersteinstraße, die in Richtung Westen leicht ansteigt, so dass sie endlos wirkt, weil sie aus dieser Perspektive den Horizont bildet. Ich muss sie entlang fahren Richtung Sonne, die sich langsam dem anderen Horizont, es gibt ja immer einen anderen Horizont, annähert. Die Pflastersteine rütteln und schütteln mich und plötzlich wird mir klar: Ich kenne diese Straße. Sie heißt Hohe Eiche. Hier ist das Figurentheater-Kolleg in einem schönen, alten Backstein-Schulgebäude und vor ungefähr knapp drei Jahren kam hier eine Frau, die ich irgendwie mochte, aus der großen Eingangstür und wir gingen in den nahen Volkspark Langendreer, um uns zu streiten. Sie erklärte mir, dass man in Beziehungen Verantwortung übernehmen müsse, verbindlich sein. Ich fand, dass man nach erst zwei vorangegangenen Treffen doch überhaupt noch gar nicht von einer Beziehung sprechen konnte oder sollte. Schon gar nicht von einer, in der man Verantwortung zu übernehmen hatte. Das war doch irgendwie unzulässig. Gleichzeitig fiel mir auf, wie schön dieser Park war. Leicht verwildert, mit Sitzgelegenheiten, die sicher seit Jahrzehnten nicht verändert und auch nicht gesäubert worden waren. Mit Objekten, bei denen man nicht wusste, ob sie moderne Ruinen oder Skulpturen oder zufällige Bauten junger Menschen waren, denen überschüssige Sommerferien-Energie, Backsteine und Beton zur Verfügung stand. Mich erinnerte dieser Park an Maryon Park in London, dem Drehort der tollsten Szene in Michelangelo Antonionis Film „Blow Up“, den ich sehr liebe. Auch im Maryon Park hat sich seit Jahrzehnten nichts verändert und als ich ihn vor ungefähr zehn Jahren betrat, war das wie Michelangelo Antonionis Film zu betreten. Und wenn man über Bochums Straßen freihändig nach L.A. und London, zu vergangenen Liebschaften und die Sommerferien der Kindheit fahren konnte, dann hatte ich es doch weit gebracht. So hat es sich angefühlt. Und auch ein bisschen wie eine Grippe. Aber dazu später mehr.


Sonntag, 19. Januar 2020

Durch die Nacht mit Frank Castorf und Johan Simons

Nach dem zweiten langen Theaterabend in Folge, Johan Simons‘ großartigem „Iwanow“, lande ich in der Oval Office Bar des Schauspielhauses Bochum. Zwei Schauspielerinnen laufen kichernd hinter die Bar als wollten sie etwas Unerhörtes, Unerlaubtes tun. Aber sie kapern nur den Laptop und modifizieren die Spotify-Playlist. Ich kenne dieses Klavier-Intro. Es klingt so lieblich, aber der Schein trügt, gleich wird ein Sturm losbrechen. Ja, klar, das ist „Because The Night“ von Patti Smith. Menschen stürmen die Tanzfläche, Frauen, Männer und alles dazwischen. Sie schreien: „Weil die Nacht den Liebenden, weil die Nacht uns gehört!“

Ich schreie mit, vom Barstuhl aus und denke an Patti Smith‘ Auftritt vor zwei Sommern in Köln. Sie hatte ihren Arm verbunden und konnte nicht Gitarre spielen. Ich denke daran, wie unglaublich nah sie mir beim Lesen von „M Train“ gekommen ist, ich saß quasi regelmäßig mit an ihrem Lieblingstisch in ihrem Lieblingscafé. Ich denke daran, wie ich danach ihr Instagram-Profil entdeckt habe, in dem sie regelmäßig poetische, in Versen verfasst Posts absetzt und Fans wie mich an ihrem Leben, ihrem Denken und Fühlen teilhaben lässt. Ich denke: „Wenn sie stirbt, werde ich traurig sein, erschüttert. Es gibt keine Stimme wie ihre, die gleichzeitig so mütterlich tröstlich und kämpferisch ist. Ich werde nach New York fahren, zu ihrem Haus am Rockaway Beach und werde weinen. Ich konnte nicht weinen als Opa und Oma starben. Aber dann werde ich weinen.“

Natürlich sind diese Gedanken total drüber. Ich bin offenbar stark emotionalisiert, offen, verletzlich, verwundbar. Ich sollte nach Hause gehen. Die letzten zwei Nächte waren hart und gehörten nur bedingt mir selbst.

Der erste lange Theaterabend ging mir schon Tage vorher im Kopf herum. Als zweiten Auftrag (ever!) für das Portal Nachtkritik.de sollte ich Frank Castorfs Inszenierung „Aus dem bürgerlichen Heldenleben“ im Schauspiel Köln rezensieren. Mehrere Faktoren machen das zu keiner einfach Aufgabe: Konzept des Portals Nachtkritik.de ist, die Theaterkritiken bereits am nächsten Morgen gegen neun Uhr online zu stellen. Wenn man also nicht um sechs Uhr aufstehen will, und das will ich eigentlich nie, muss man noch nachts schreiben. Frank-Castorf-Inszenierungen dauern in der Regel allerdings fünf Stunden und länger, mit der Rückfahrt aus Köln würde ich also nicht vor ein Uhr zum Schreiben kommen. Außerdem hat Castorf in seiner langen Zeit als Intendant der Berliner Volksbühne das Theater revolutioniert und im gesamten deutschsprachigen Raum eine große Fangemeinde, die meinen Text sicher besonders genau und kritisch beäugen wird. Es wird der erste Text sein, der über das Stück erscheint. Ich kann mich nicht wie sonst bei der Nachtkritik rückversichern, ob ich alles richtig gesehen oder verstanden habe. Ich schreibe die Nachtkritik.

Ich bereite mich also auf einen langen, einsamen und arbeitsamen Abend vor. Ich lese mich in Sternheims Dramenzyklus „Aus dem bürgerlichen Heldenleben“ im Projekt Gutenberg ein (wie gut, dass es das gibt!), lese den Anfang seines „Europa“-Romans. Castorf will vier Kurzdramen und einen Roman in diesen Abend packen. Ist der wahnsinnig? Ja, klar, er ist wahnsinnig. Das ist bekannt. Aus meiner diffusen Erinnerung an eine seiner Inszenierungen bei der Ruhrtriennale schält sich vor allem ein Bild heraus: Auf der Bühne stand ein Pferd. Ich erinnere mich an eine Pressekonferenz bei den Ruhrfestspielen, bei denen der neue Intendant Olaf Kröck vorgestellt wurde mit der Hoffnung auf Kontinuität. Tief sitzt dort immer noch die Wunde, die Bürgerschreck Castorf mit einem kurzen Intermezzo geschlagen hat.

Ich schreibe der Nachtkritik-Redaktion: „Der Abend soll fünf bis sechs Stunden dauern. Mit Anfahrt, Schreiben und ein bisschen einlesen bin ich dann bei ungefähr zwölf Arbeitsstunden. Gibt es für solche Fälle die Möglichkeit, das Honorar anzupassen?“ Nein, gibt es nicht. Es gebe aber den Fame eines besonders viel gelesenen Artikels und dadurch vielleicht auch eine größere Ausschüttung von der VG Wort. Dabei ist der Fame doch genau das, was mir noch mehr Druck macht.

Immerhin bin ich plötzlich doch nicht allein. Meine Nachbarin will mitkommen, obwohl ich ihr die Aussichten für den Abend realistisch schildere: „Das Stück wird sehr lange dauern, wir werden möglicherweise nichts verstehen und oft angeschrien.“ Für die Fahrt hat sie Schokolade und Obst mitgebracht. Ich steuere Getränke und veganes Fastfood bei. „Das fand ich immer am schönsten an langen Autofahrten, dass man sich im Auto so häuslich einrichtet“, sagt sie und schält eine Orange. „Wir müssen uns ja gut stärken.“ Beim Aussteigen fällt ihr auf, dass sie keine Zeit mehr hatte, ihre Schuhe zu putzen. Auf einem wahrscheinlich mit Fingerfarbe rosa angemalten Fahrrad fährt ein Typ mit Wollmütze, Schnurrbart, Jogginghose und abgetretenen Sneakers vorbei und parkt vor dem Theater. „Aber schau doch mal“, sage ich, „wir könnten uns in Pfützen wälzen und wären nicht underdressed.“

Als ich den Theatersaal betrete, fällt mir ein, wann ich mich zum letzten Mal so gefühlt habe, wie jetzt: Als ich in den OP-Saal des Herner Krankenhauses geschoben wurde. Ich gebe mein Leben in fremde Hände, gebe die Kontrolle ab an Frank Castorf und sein Ensemble.

Als der Vorhang, der die gesamte Breite der großen ehemaligen Industriehalle des Carlswerks einnimmt, sich schwungvoll öffnet, weicht die Beklemmung Begeisterung. Wow, was für ein tolles Bühnenbild! Ein abgeranzter Salon, Wirtssaal, was weiß ich. Es nimmt das gesamte Sichtfeld ein, man kann den Blick schweifen lassen, wenn man wieder angeschrien wird, sich in Monologen und Text-Verschnitten verheddert und verliert, wenn die Schauspieler*innen auf einmal nur noch für Kameras spielen und wir auf eine Videowand starren, wenn Schweiß von der Stirn tropft: Was soll ich denn dazu schreiben?

„Hast du irgendeine Ahnung, worum es ging?“, frage ich meine Nachbarin in der Pause. „Nein, nicht wirklich“, sagt sie. Aber dieser Umstand scheint sie nicht im geringsten zu belasten. Sie wirkt zufrieden, hat Lust auf die zweite Hälfte. In meinem Kopf gärt es: Vielleicht ist das das Geheimnis von Castorfs Theater. Worum es geht, ist keine relevante Frage mehr. Es geht um die darstellende Kunst an sich, für sich. Und das wiederum stimmt auch nicht ganz, denn im weiteren Gespräch schält sich doch heraus, wie viel uns ganz selbstverständlich klar ist: Es geht um Deutschland und Europa in der Zeit vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg, um die Atmosphäre dieser Jahre, die Geisteshaltung, die Politik, die Armut, die gesellschaftliche Zersplitterung, verfallende Moral, Machtgelüste, niedere Instinkte.

Um drei Uhr habe ich meinen Text geschrieben, lese ihn noch zweimal, schicke ihn ab. Gedanken schießen durch den Kopf: „Ich mache mich lächerlich. Danach wird mich niemand mehr engagieren.“ Aber auch: „Das wird ein grandioser Erfolg. Danach werden mir alle Türen offen stehen.“ Ich setze mich 15 Minuten aufs Kissen, müde, aber es muss sein, denn danach denke ich auch: „Die Wahrheit wird irgendwo dazwischen liegen. Da liegt sie immer. Nicht da und nicht dort. Es war ein Auftrag und du hast dir Mühe gegeben, ihn gut zu erfüllen.“

Fünf Stunden später wache ich auf, für Castorf wäre also zu wenig Zeit gewesen, meinen Traum zu inszenieren, tapse in die Küche und trenne mein Smartphone vom Ladekabel. Die Nachtkritik-Redaktion schreibt: „Wenn sich das nicht gelohnt hat! Ein brillanter Text mit einem herrlichen Drive.“ Wow. So ein Lob bekommt man selten von Redaktionen. Das größte Lob ist normalerweise gar keine Reaktion und eine weitgehend unveränderte Veröffentlichung. Ich versuche, nicht zu viel Stolz zuzulassen, noch etwas zu schlafen. Beim nächsten Blick auf das Smartphone eine weitere Mail: Ob die Kommentatorin Recht habe, dass ich in einer Passage eine Schauspielerin verwechselt habe? Bestimmt hat sie Recht. Zwei Schauspielerinnen, die ich vorher nicht kannte, haben im quasi identischen Kostüm gespielt. Wie machen das andere Theaterkritiker*innen? Ich komme mit einem Haufen diffuser Erinnerungen, fragmentarischer Notizen und großen Fragezeichen nach Hause und Google hilft auch nicht immer.

Ein*e weitere*r Kommentator*in schreibt: Das Bühnenbild ist doch ein Nachbau von Clärchens Ballhaus in Berlin! Scheiße, ich hab irgendwas von Sommerfrische-Salon in den Alpen geschrieben. Hätte ich das wissen müssen? Immer geht das jetzt so weiter: Ich habe die Performance einer Schauspielerin als „lustlos“ beschrieben. Unverschämt sei das! Für eine fünfstündige Leistung! Ich möchte gern antworten: „Aber ich habe das doch nur im Castorf-Kontext gemeint: Also ‚lustlos‘ als stilistisches Merkmal, eigentlich total toll, vor allem an dieser zentralen Stelle“, aber ich halte mich zurück. Sollte man das tun – als Autor in Diskussionen einsteigen? Ich muss da mal nachfragen. Dann noch ein Kommentar, fast so lang wie mein Text: Mein Pina-Bausch-Vergleich, der wäre ja wohl sowas von daneben. Und meine generellen Aussagen zu Castorfs Theater, das stimme doch so nicht.

Aber wie sagt dieses Beckett-Zitat, das man manchmal auf Gästetoiletten von Bildungsbürgern findet: „Try again, fail again, fail better.“ Nach einem Nachmittag im Gemeinschaftsgarten, ich habe wild wuchernde Rosen beschnitten, hole ich mir also meine Pressekarte für Johan Simons‘ Tschechow-Inszenierung „Iwanow“ in Bochum ab. „Versteh mich nicht falsch“, sagt der Pressesprecher, „du bist ja ein guter Autor. Aber ist das nicht überraschend, dass du für die Nachtkritik über Castorf schreiben durftest? Ich meine: Die Nachtkritik! Castorf! Du!“ (oder so ähnlich) Und er hat natürlich Recht. Wieso ist das überhaupt passiert?

„Drei Stunden vierzig“, sagen die beiden Freundinnen, die zufällig vor mir sitzen, und schicken ein leises Stöhnen hinterher. „Vorher hieß es ja noch drei Stunden dreißig, aber diese ‚vierzig‘, die gibt jetzt ja schon zu denken.“ „Ich war gestern bei Castorf“, erzähle ich, „und es ging sechs Stunden.“ Sie schauen mich mitleidig an, aber können nichts mehr erwidern. Der Feuerschutzvorhang beginnt sich langsam zu öffnen, gibt den Blick frei auf ein wieder phantastisches Bühnenbild. Jens Harzer als Iwanow ist großartig. Ein gar nicht so entfernter Verwandter von Sandra Hüllers Hamlet. Am Ende dauert das Stück sogar vier Stunden, endet mit einem grandiosen Dialog zwischen Iwanow und seiner Sascha. Ich denke: „Was für ein Glück. Diese zwei Theaterabende waren ein Glück.“ Der Schuss fällt, mit dem der Protagonist sich das Leben nimmt. Ein Zuschauer im Rang seuzt: „Das wurde aber auch Zeit.“

„Was für ein Idiot“, denke ich, muss aber unweigerlich lachen, bremse mich und höre nochmal hin: Diese Musik, die fast die gesamte Inszenierung am äußersten Rand der Wahrnehmung zu hören war, oder das, was mein Gehirn als weit entfernte Musik interpretiert hat: Ist es immer noch zu vernehmen? Ist es vielleicht die Oval Office Bar, die im Keller schon ihre Party gestartet hat?

Vielleicht haben Patti Smith und ihre Kolleg*innen mich also schon vorher, noch im Theatersaal, in diese Nacht geleitet. Und vielleicht lief Patti Smith schon, bevor die beiden Schauspielerinnen die Spotify-Playlist gestürmt haben, sie stand also auf der Ur-Playlist. Erinnert sich noch jemand? Ich bin mit dieser kleinen Situation in den Text eingestiegen. So wie sie vielleicht gar nicht stimmt, stimmen auch viele andere Sachen, die ich schriftlich fixiere, ganz sicher nicht hundertprozentig mit der Realität überein. Die Schauspielerin, die mit ihrer Kollegin einen Text unisono sprach, hieß anders. Der Alpen-Salon ist ein Berliner Ballhaus. Der Pina-Bausch-Bezug macht maximal in einer nebensächlichen Hinsicht Sinn. Aber was soll ein Theatertext verkünden? Die absolute Wahrheit über einen Abend? Oder wie er auf einen so und so strukturierten und vorgeformten Geist gewirkt hat? `

Warum schreibt im Journalismus eigentlich niemand mehr wie Wolfgang Welt?

In der Pause überlegten wir, ob wir nochmal zum Auto gehen, Restproviant essen. Aber an der Bar im Foyer gab es auch Spitzkohl-Eintopf mit angebratenen Maultaschen, bezahlbar. Was machte eigentlich der Bochumer Lokaljournalist Sven Westerströer hier? War der Castorf-Fan? Musste ich ihn beizeiten mal drauf ansprechen. Zuletzt hatte sich unser Verhältnis allerdings etwas abgekühlt. Seit ich bei seinem Chef angefragt hatte, ob ich auch mal für die WAZ Bochum schreiben kann, sah er mich vielleicht als Konkurrenz.

So in dem Stil halt… radikal subjektiv. Ich werde an meinen Tisch im Café 'ino gehen und darüber nachdenken.

Sonntag, 27. Oktober 2019

Über den Wolken

Ich habe wirklich keine Ahnung von Jacques Brel. Den Song „Eventuell Jacques Brel“ habe ich wegen eines Thekengesprächs vor langer Zeit geschrieben, wegen des Binnenreims im Satzfragment, das in diesem Gespräch fiel und das wahrscheinlich bloß Ausdruck dieser Ahnungslosigkeit war: „Hat nicht schonmal jemand einen Song gemacht über diese besondere Nachtstimmung am Tresen?“ -„Ich weiß nicht… Eventuell Jacques Brel?“ Jetzt sitze ich beim Frühstück vor meiner bescheidenen Plattensammlung und ziehe eine raus: Brel. Vier Buchstaben auf einem blauen Himmel mit Wolken, schwereren Wolken als auf dem Cover von The Plastic Ono Bands „Live Peace in Toronto“ oder Flowerpornoes „Umsonst und Draußen“. Stimmt, die habe ich mal auf einem Flohmarkt gekauft und vielleicht ein halbes Mal aufgelegt. Jetzt läuft sie und auf dem Smartphone Wikipedia: „Brel“ ist von 1977, heißt auch „Les Marquises“ und ist sein letztes Album. Wie? Der französische Nationalheld ist 1978 schon gestorben? Vor über 40 Jahren? Habe ich nicht mal so ein Biopic über ihn gesehen von diesem Comiczeichner und da starb er erst in den 1990ern? Ach nee, das war „Gainsbourg“ von Joann Sfar. Peinlich. Jacques Brel jedenfalls wusste seit 1975, dass er schwer krank war. Da hatte er einen Zusammenbruch, Krebsdiagnose, in Brüssel wurde ein Teil seiner Lunge entfernt und die Aussicht auf eine lange Zukunft verstellt. Brel segelte um die Welt, wurde wie vor ihm Gaugin auf Hiva Oa, einer der Marquesas-Inseln mitten in Polynesien im Pazifik, heimisch, machte einen Pilotenschein. Die Welt erleben per Schiff und per Flugzeug, Eindrücke einsaugen ehe sie für immer verschwinden. Noch einmal in Poesie verwandeln, in kristallklare Sprache, mit Dringlichkeit singen, nur zwei Lieder pro Tag im Studio, mehr schafft er nicht mehr, aus zwölf wird das Album, das die Plattenfirma bis zum Tag seiner Veröffentlichung geheim hält, sich dann aber millionenfach verkauft, dessen letztes Chanson von den Marquesas handelt, französisch „Les Marquises“. Die Ärzte haben ihm eigentlich davon abgeraten, dort zu leben. Das tropische Klima sei nicht gut für die Lunge. Und jetzt singt er: Das Herz ist Reisender. Die Zukunft zufällig. […] Weißt du was? Jammern ist nicht angebracht – auf den Marquesas.

Wie lebt man in der Gewissheit, dass der Tod wahrscheinlich schneller naht als vor kurzem noch angenommen? Ich habe mal einen getroffen, der hat sich zugesoffen wie nichts Gutes und seinen Körper durch diese Welt bewegt wie Super Mario im Unverwundbarkeitsmodus. Das ist eine Möglichkeit. Tim zerteilt einen Apfel mit dem Messer und alle im Raum bekommen ein Stück. Und noch eins. „Möchtest du noch?“, fragt er jede und jeden in der verrauchten Küche und hält die Hand mit dem Stück frischen Apfel hin, letzte Nacht gepflückt im Schrebergarten nebenan, von der Schnittkante fällt ein süßsaurer Tropfen zu Boden. Die Leute hier werden die Nacht durch rauchen, kiffen, trinken, essen, labern. Tim wird irgendwann ins Bett gehen und morgen früh arbeiten, dann zur Dialyse. Er finanziert die große Wohnung, die sich über eine ganze Etage eines schönen Stadthauses erstreckt. Lebt er für sich oder für andere? Oder ist das dasselbe? Er öffnet die Tür mal um mal, wenn die Klingel geht. Manchmal kommen 30 Leute, hängen auf Stühlen, liegen auf Matratzen, konsumieren, musizieren, reden, kochen, drehen die Anlage lauter. Tim liegt auf dem Teppich. Atmet er noch? Er steht auf und jongliert mit drei leuchtenden Bällen. Die hat er sich mal gegönnt. Ansonsten gönnt er sich nicht viel. Doch, den zweiten Flug nach Kairo, nachdem er den ersten knapp verpasst hat. Schwere Wolken verhängen die Aussicht auf den blauen Himmel. Von oben verstellen sie die Sicht auf die Erde und was da so los ist. Aber von hier aus sehen sie so leicht aus.

Freitag, 17. Mai 2019

Terezín

Terezín, Theresienstadt, Stadt genannte Festung. Die dünnen Wasserstrahlen, die die Pumpen des Brunnens auf dem großen Platz in die Luft schießen, können keine Feier des Lebens vortäuschen – über der Stadt hängt eine Glocke und die dumpfe Atmosphäre des tödlichen Schreckens kann nicht abziehen. So fühle ich jedenfalls gleich nach der Ankunft und ich weiß nicht, ob ich es gefühlt hätte, wenn ich nicht wüsste, wo ich mich befinde und was hier geschehen ist. Zwischen 1500 und 2000 Menschen leben noch in der Stadt, die Militärkaserne, die Ghetto, die Gefängnis war, erzählt unser Tourguide. Gebaut wurde sie für 10.000, die Nazis pferchten ungefähr fünf- bis sechsmal so viele Menschen hinein, als sie sie im Zweiten Weltkrieg zum jüdischen Ghetto machten. Da drüben liegt ein Mann hinter der Lehne einer Bank auf dem Rasen und ruft unverständliche Laute über den Platz. Ein Obdachloser? Ist er hingefallen? Nein, er sieht aus, als läge er sich zum Schlafen in die paar Sonnenstrahlen, die sich durch Lücken in der Wolkendecke schummeln. Er hat die Schuhe ausgezogen.

Ich will nicht an der Führung durch Theresienstadt teilnehmen, das Grauen in meinem Kopf ist so schon groß genug, ein Unwohlsein im ganzen Körper. Ich möchte es hinausrufen, mich dazu legen. Tränen kriechen den Hals hoch, wollen sich nicht schlucken lassen. Ich denke an die Freundin, die mich zum Hannes-Wader-Konzert begleitet hat, Tränen liefen ihr über die Wangen, als er „Die Moorsoldaten“ anstimmte, das Lied der Häftlinge des KZs Börgermoor. Ich habe mich gefragt, warum nicht viel öfter Menschen weinen, wenn es um diesen Teil der deutschen, unserer Geschichte geht. Ich glaube, weil nur wenige ermessen, dass nicht Monster diese Taten begangen haben, sondern Menschen, unsere Vorfahren, dass derart schreckliche Verbrechen in bestimmten historischen Konstellationen im Bereich des Möglichen liegen.

Susanna geht auch nicht mit auf die Führung. Sie soll auf die Fahrräder aufpassen, aber die hat sie schon sicher weggeschlossen. Wir gehen langsam über den Platz, an dem Mann vorbei, der jetzt ganz ruhig und regungslos hinter der Bank im Gras liegt. „Is he alive?“, fragt Susanna, und ich gehe näher zu ihm hin. Sein Gesicht ist rot, seine Finger ganz blass und dürr, unter den Nägeln ein Schmutzrand. Ich gehe noch näher auf ihn zu, rieche Alkohol und glaube, regelmäßige Bewegungen in seinem roten Barthaar zu erkennen. „I think he’s breathing“, sage ich, und wir entfernen uns wieder. Was hätten wir tun können? Was könnten wir jetzt tun? Die Frage ist wie vor 80 Jahren aktuell.

Susanna fragt, ob ich jetzt den Räucherkäse kaufen möchte, nach dem ich schon seit gestern suche. Da wäre ein Laden. Nein, nicht hier. „It’s a normal shop now“, sagt sie. – „Yes I know.“ Aber es wäre mir peinlich, wenn die anderen sähen, dass ich während ihrer Führung durch Terezín, während ihrem Rundgang durch das Ghetto-Museum Käse gekauft habe.

Zwischen alten Backsteinmauern, die wohl zu den Verteidigungsringen der alten Festungsanlage gehören, sind Ziegen eingepfercht. Sie meckern von weitem hörbar. Früher war es hier sicher still. Kein Wort drang durch die Mauern und Tore, leise Gespräche der Schicksalsgenossen ohne Aufsehen zu erregen – oder Aufseher? Einige Ziegen fressen lustlos das trockene Stroh, auf dem sie herumlaufen oder –liegen. Wir sammeln bedächtig frischen Löwenzahn und Sauerampfer von der grünen Wiese vor ihrem Tor, halten es ihnen durch die Zwischenräume hin. Es ist schwierig, auch die kleinen zu füttern, ein Ziegenbock stößt alle mit den Hörnern fort. Doch es ist möglich, wird zum Sport: den Benachteiligten helfen. Ein kurzer Trost. Ein Blick nach oben. Vor der bröckelnden Fassade und den zugestellten und damit blinden Fenstern einer hohen Kasernenfassade steht ein Lindenbaum. Ich möchte zu Susanna sagen: „Der stand vielleicht schon vor 80 Jahren hier, hat alles miterlebt.“ Ein Gespräch über Bäume, das kein Schweigen über die an diesem Ort verübten Untaten einschließt.

Hat die Linde sich im Wind gewiegt als Menschen ankamen, sich zu Tode schufteten oder abtransportiert wurden? Sind die Vögel damals genauso wild hin und her geflattert, haben genauso vielstimmig gesungen?

Gestern Nacht bin ich mit Susanna durch Litowice spaziert, eine Stadt wie ein Freilichtmuseum, überall schönste gedämpfte Lichtstimmungen, Aussichtspunkte über die Kirchen und Schlösser und böhmische Berge. Wir spazierten wie Jesse und Celine in „Before Sunrise“ durch Wien spazieren, suchten immer wieder ein neues Ziel. An einer kleinen Mauer mit Blick auf das darunter liegende Haus reicher Leute mit Swimmingpool spielte ich ihr James Taylors Version von „Oh Susanna“ vor und wusste gar nicht, ob ich das als romantischen Moment meinte. Als James Taylor fertig war, sagte sie mit einer Leichtigkeit: „Okay, now we can go home.“ Jeder in sein Hotelzimmer.

Mit derselben Leichtigkeit schlendert sie jetzt durch den Second-Hand-Laden eines grimmigen Alten mit vergilbtem weißem Bart. Der Laden ist von oben bis unten vollgestellt mit Dingen, die früher Haushalte gefüllt haben: Teller, Tassen, Bilder, Fotos, auch Waffen, Gasmasken. Ich möchte nicht darüber nachdenken, wem diese Dinge einmal gehört haben, möchte wieder raus, ganz raus, hinter den äußersten Schutzwall. Ich bin dankbar, dass ich es heute tun kann. Auf ein Fahrrad steigen und wegradeln, in die nächste Stadt, zum nächsten Bahnhof. Gleich, in einer halben Stunde.

Bis dahin gehen wir in ein Café und reden nicht mehr. Eine Frau bringt mir lächelnd eine heiße Schokolade, die eine Konsistenz hat wie ein Pudding. Ich frage mich: Warum leben hier Menschen? Wie können sie das? Sollte ein Ort mit dieser Geschichte versuchen, Stadt zu sein? Sollte er nicht lieber als eine Art Freilichtmuseum geführt werden, als lebendiges Mahnmal? Und jeder der hier ist wird bezahlt vom deutschen Staat.

Susanna zeigt mir etwas aus ihrer Tasche. Sie hat bei dem Bärtigen eine kleine Engelsfigur gekauft. „My mother loves them.“ Aber dieser Engel hat vielleicht einmal nicht aufgepasst.

Montag, 11. März 2019

Wasserball und Kommunismus


Abwesend wirkende Einlassmenschen, drückende Wärme, schäbige, angemackte Fliesen, Chlorgeruch – die ganze Kindheit ist wieder da, wenn ich ein Hallenbad betrete. Die Scham über meine Badehose mit Seepferdchen-Aufnäher, obwohl alle um mich herum kurze Zeit später schon mindestens den Freischwimmer geschafft hatten. Die Unverständnis meiner Mutter als ich eine neue Badehose forderte, obwohl sie doch gerade erst den Aufnäher auf die alte gebracht hatte. Generell diese latente Scham in der kalten Gruppendusche des alten Realschulschwimmbads (obwohl ich doch in die Grundschule ging!) mit den schmalen Fenstern ganz oben an der Wand in Deckennähe, zu schmal, um hinaus zu sehen, sich hinaus zu sehnen. Den Tipp des strengen Lehrers Herr Soest, sich am Ende kalt abzuduschen, weil das die Hautporen verschließe, befolgte ich nie. Er brachte mich aber zu einem neuen Nachdenken über die Funktionen des eigenen Körpers.

Diesmal bleibe ich angezogen. Ich widerlege meine Selbstannahme, mich ein für allemal nicht mehr für Sport zu interessieren. Diese Selbstannahme ist über die Jahre gewachsen, obwohl ich doch 1995 schon vor 20.000 Fans als offizielles Bengalo-Feuerwerk tragendes Kind im VfL-Bochum-Stadion auflief. Mein Vater hatte damals wahrscheinlich die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass aus mir noch ein normaler Junge wird. Die Reise zur verfrühten Meisterschaft von Borussia Dortmund im Spiel gegen den TSV 1860 München in München war dann aber doch eher merkwürdig.

Jetzt geht es nicht um Fußball, sondern um Wasserball. Das ist mir sympathisch, weil einer meiner Lieblingsregisseure, Nanni Moretti, einen Film gemacht hat, der „Wasserball und Kommunismus“ heißt. Um ihn endlich einmal anzuschauen, habe ich gerade sogar meine Nerdfähigkeiten reaktiviert und mich in die Tiefen des Torrent-Netzwerks gearbeitet. Es gibt ihn nur auf Italienisch mit englischen Untertiteln und auch nur bei einem Seed und einem Peer. Das wird dauern.

OK. Also Nerdskills und Sportinteresse. Das ist alles wieder da, weil meine Freundin C. oft mit voller Emphase von ihrer Liebe zum Wasserball erzählt. Also, es ist vielleicht nicht nur eine reine, ungebrochene Liebe, aber sie bleibt am Ball. Sie hat diesen Sport einmal als einen (vielleicht als den einzigen) Sinnspender bezeichnet. Das ist etwas. Die Frage nach dem Sinn hat mich zuletzt fast in die Verzweiflung getrieben, um das mindeste Wort zu benutzen, das den Zustand umschreiben kann, deshalb dachte ich: Wow.

Und auch jetzt, hier im Unibad: Wow. C. hatte noch versucht, mich vom Besuch des Spiels gegen Hannover abzuhalten. Sie hatte gesagt: „Wir haben die Quali verpasst, es geht um nichts mehr.“ Aber soweit ich mich erinnern kann, geht es beim Sport doch immer um etwas, mindestens um die Probe für ein wieder wichtiges Spiel, das immer irgendwann ansteht. Und so war es auch. Während ich angezogen, bloß mit bloßen Füßen durch die Halle schleiche, tobt im Becken schon das Spiel und auf der kleinen Zuschauer-Tribüne ein kleiner Pulk aus mitgereisten und heimischen Fans.

Gerade, weil ich von C. ganz anders instruiert wurde, empfinde ich die Atmosphäre als extrem aufgeheizt. Schiedsrichter auf jeder Seite laufen auf und ab, pfeifen andauernd schrill, machen energische Handzeichen, ein Kommentator spricht mit lauter Stimme in ein Mikrofon, immer wieder ertönt ein Alarmsignal und das erste Mal denke ich: Scheiße, das Dach bricht ein wegen des Orkans draußen. Aber es hat wohl irgendwas mit der speziellen Aufteilung der Spielzeit zu tun. Es gibt nicht nur vier Viertel, sondern auch Angriffszeiten, Time-Outs und Pausen. Ständig rasen neue Sekunden über die Anzeige. Ich bleibe ständig und immer wieder neu im Hier und Jetzt. Ein Zustand, den ich mir bei der Meditation oft mehr wünsche als erreiche. Mehr Sinn geht vielleicht gar nicht.

Ich frage mich, ob die Spielerinnen die großen Badekappen mit Ohrenschutz vor allem deshalb tragen, um die extreme Geräuschkulisse zu ertragen, oder ob die Geräuschkulisse so extrem ist, um durch die großen Badekappen mit Ohrenschutz zu den Spielerinnen durchzudringen. Die Schiedsrichter jedenfalls sind offenbar schon hörgeschädigt, denn um ihr letztes Time-Out zu bekommen, muss der gesamte, mittlerweile stehende Hannoveraner Fanblock wütend und entrüstet „Time! Out!“ schreien. Dass keine Bierdose fliegt, liegt nur daran, dass hier niemand Bier trinkt. Wasserball ist ein sauberer Sport, höchstens mit etwas Chlor versetzt.

Bochum führt, doch Hannover holt auf, schießt das Unentschieden, obwohl man hier doch wirft. Manchmal schreit eine Spielerin plötzlich auf und ich frage mich, ob es spezielle Kameras gibt – oder ob Treten, Kneifen und andere Gemeinheiten unter Wasser meist unentdeckt bleiben. Verzweifelte Gesichter blicken in Richtung Trainer: Was hat er gesagt? Ich soll auf die drei? Nein, doch sie? Ein Typ mit Glatze, Bart und hochrotem Kopf explodiert in skurriler Regelmäßigkeit und brüllt heiser Sätze wie: „Das kann doch nicht sein! Das musst du doch sehen!“, und meint wahrscheinlich den Schiedsrichter. Ich frage mich, ob er der Typ ist, der Zuhause auch seine Kinder anschreit oder Katzenbabys verprügelt, oder ob er total reflektiert alle Aggressionen beim Sport ablässt und in allen anderen Zusammenhängen Ruhe und Sanftmut bewahrt.

Nach dem Spiel treffe ich ihn vor dem Eingang. Dem Orkan einen Schritt voraus hat er sich die Zigarette bereits eine Tür vor der letzten Schleusenstufe angezündet. Ich frage ihn, ob C. schon gegangen sei. „C. hat heute vielleicht nicht die meisten Tore geschossen, aber sehr gut gespielt“, sagt er. Und redet einfach weiter: „Du hast dich sicher gefragt, warum sie so oft ihren Arm gehoben und damit herum gewedelt hat.“ Pause. Ich weiß nicht, ob ich mich das gefragt habe. Eigentlich war mir recht klar, dass „Das war, um den Gegner von einem guten Passspiel abzuhalten – und das hat wunderbar geklappt.“ Ich sage: „Aha.“, und jetzt weiß ich, wie sich das anfühlt, wenn man als Mann in einen Fall von Mansplaining gerät. Wir können manchmal richtig nervig sein.

C. erklärt ihr Armwedeln anders: „Anstatt selbst kreativ zu werden, habe ich die anderen daran gehindert.“ Ich sage: „Ihr habt gewonnen, das ist doch wunderbar!“ Sie sagt: „Wir hätten gestern gewinnen müssen, heute ging es um nichts“, und hat Tränen in den Augen. Der Trainer kommt auf mich zu, schüttelt mir die Hand: „Danke für die Unterstützung!“ Offenbar fällt ein neues Gesicht hier gleich auf. Ich denke, man sollte diese Mannschaft in Zukunft mehr unterstützen. Aber was hat das jetzt mit Kommunismus zu tun? Hallo Torrent-Download? Restzeit 3d14h? Ohje.

Dienstag, 19. Februar 2019

Oh Bort


Ich denke zuallererst an meinen Opa, wenn ich jetzt nach siebeneinhalb Jahren meinen Skoda Fabia weggebe. Wenn ich den steilen Waldweg hinunterkam und auf die Einfahrt mit dem klapprigen Tor zu, dann stand er entweder schon draußen oder winkte im Fenster, „Warte, ich komm rrrunter!“, und inspizierte erstmal den Wagen, dann mich. Mit kritischem Blick lief er einmal herum als würde er nach neuen Dellen oder Kratzern suchen, die ihm beweisen könnten, dass ich den Weg nach Bergneustadt mal wieder zu schnell zurückgelegt habe. „Besser nicht mehr wie 140!“, gab er mir mit auf den Weg, als er mir mein erstes Auto schenkte, einen weißen Golf II mit vier Gängen und 75 PS, den er für 1000 Mark meinem Stiefvater abgekauft hatte. In Opas Kopf wog der Status- und Komfortgewinn eines Autos ganz klar die Gefahr auf, in die er mein 18-jähriges Leben und das der anderen Verkehrsteilnehmer mit diesem Geschenk brachte. Ein Auto, das musste schon sein, das markierte deutlich, dass man es geschafft hatte: sich aus den Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit in ein annehmbares Leben zu navigieren. Noch in den 1970er-Jahren hatte sich mein Opa den Traum eines eigenen Mercedes Benz erfüllt, hellblau und natürlich gebraucht, und ich weiß nicht, ob ich mich selbst an die entsetzten Schreie meiner Eltern und Großeltern erinnere, als ich als Dreijähriger hinterm Steuer die Handbremse löste und den großen Garten hinunter auf den Waldrand zurollte, oder ob ihre lebhaften Erzählungen von diesem Ereignis zu eigenen Bildern in meinem Kopf geworden sind.
Nach seinem obligatorischen Rundgang machte Opa oft noch die Motorhaube auf, kontrollierte Öl- und Batteriewasser-Stand, goss Scheibenwaschanlagenwasser nach oder drehte sogar mal eine Zündkerze raus: „Ist ein bisschen schwarz, musst du vielleicht bald wechseln.“ Ich weiß, welch großes Glücksgefühl ich empfand, als ich zum ersten Mal mit dem dunkelblauen Skoda Fabia ankam, 2011 im Herbst wahrscheinlich. Er war sechs Jahre alt, hatte rund 70.000 Kilometer gelaufen, ich hatte ihn in Bochum bei einem richtigen Händler gekauft und Opa sagte nach seinem Rundgang ungläubig: „Da hast du für unter 5000 Euro einen fast neuen Wagen bekommen. Gut gemacht.“ Wenn ich jemandem erklären müsste, wie sich Stolz anfühlt, würde ich aus dieser Erinnerung schöpfen.

Ich denke an die Szene in der Serie „Die Simpsons“ als Bart in einem Freizeitpark ein Schild mit seinem Namen kaufen will, aber es gibt nur noch Schilder mit dem Namen Bort. „Bort? Wer heißt denn bitte Bort?“, fragt er genervt und ungläubig seine Mutter Marge und auf einmal rufen mehrere andere Mütter ihre Kinder: „Bort, komm jetzt!“ Als ich mir 2011 spontan eine Buchstabenkombination für das Nummernschild meines Skoda Fabia einfallen lassen musste, kam mir diese Szene in den Sinn. Auf keinen Fall wollte ich einen „BO-ND“ oder einen „BO-OM“, lieber einen „BO-BO“ wegen Mr. Burns Teddy Bobo, aber noch besser war „BO-RT“, dazu die Zahl 1900, weil ich damit einen ironischen Kommentar abgeben konnte zur skurrilen Eigenart anderer Menschen, ihr Geburtsjahr auf dem Nummernschild zu verewigen und weil ich die Literatur aus dem 19. Jahrhundert doch so liebte. Mein neuer Wagen wird ein „BO-LO 1983“ wegen der 1983 erschienenen anarchistischen Gesellschaftsutopie „bolo’bolo“ des Autors P.M., den ich vor zwei Jahren in einer Wohngenossenschaft in Zürich – der Art Bolo, die in unserer Realität möglich ist – traf. Dieses Nummernschild ist meines Wissens nur in Bochum möglich und es wird hier wahrscheinlich niemand verstehen. Großartig.

Ich denke an das Festival Rundlauf Bochum, das ich im Jahr 2013 zum ersten und vorletzten Mal mit organisierte. Wir brachten damals einen ganzen Stadtteil in Bewegung, machten ehrenamtlich kostenloses Kultur-Programm auf Plätzen, in leeren Ladenlokalen, Wohnungen und in einem Weltkriegs-Bunker, den seit Jahren oder Jahrzehnten kaum ein Mensch mehr betreten hatte. Wir warfen uns mit diesem Festival ins kalte Wasser, ich selbst zumindest hatte noch nie zuvor etwas Vergleichbares getan und schleppte zwei oder drei Monate das Gefühl einer kompletten Überforderung mit mir herum, dessen Manifestation das laute, metallische Knatschen von Borts Stoßdämpfern beim Fahren über die Bremsschwellen in Märzens Eiseskälte im Wohngebiet der Bochumer Speckschweiz wurde. Noch heute klebt unser wunderbar kryptischer, zartrosa Werbe-Aufkleber auf der Heckscheibe, der stilisiert das Gebiet des Rundlaufs zeigt ohne schriftlichen Hinweis auf das Festival. Ein echtes Underground-Ereignis, noch heute geraten Menschen ins Schwärmen, wenn sie sich erinnern, Bort war dabei und ich irgendwie auch.

Ich denke an die kurvige Strecke durch das spektakuläre Tal Glen Coe in den schottischen Highlands. Mein Freund Sebastian bat mich ständig rechts, ach nein, links ran zu fahren, um noch ein Foto zu machen. Und noch eins. „Schau mal, der Himmel! Fast gelb! Und diese Felsen im Wasser und die Hänge und da sind Schafe und wie die Straße verläuft!“ Bort war dabei als ich das erste Mal linksrum durch einen Kreisverkehr fuhr, und als Sebastian schrie: „Da kommt uns einer entgegen!“, oder als er auf Landstraßen schauen musste, ob wir jetzt überholen können, weil man vom Steuer auf der linken Seite aus ja nur die Vegetation am Straßenrand sehen konnte. Bort wartete auf dem Parkplatz bei den Bussen als wir den Duke of Argyll im Inveraray Castle besuchten (wir wussten nicht, was wir ihn fragen sollten), und an der Destillerie Glengoyne die Truppe der Whiskey-Bar „Highlander“ aus Alkmar wieder trafen, deren Bulli auf der Fähre von Amsterdam nach Newcastle gleich neben ihm stand. Bis zu seinem letzten Tag klemmte der Zettel mit der handgekritzelten Wegbeschreibung zum Restaurant im Moor an irgendeinem Loch in der Nähe des Grabs des schottischen Volkshelden Rob Roy in seiner Beifahrertür, wo es so leckeren Käse auf Schieferbrettchen gab. Auf der Hutablage liegen, wie sich das gehört, zwei Strohhüte: Einen hat mir Christiane in Holland geschenkt, weil meine schütteren Haare den Kopf im Sommer 2018 nicht mehr genügend vor Sonne schützten, einen bekam ich von der Queen of Loveland, Colorado, auf unserem Roadtrip durch Colorado 2015. Damals hatten wir einen Leihwagen und der Hut war eine Art Souvenir und Entschuldigung für Bort – über den Ozean, das ist zu weit für dich, mein Lieber.

Ich denke an Karl Ove Knausgard, der in seinen kurzen Essay-artigen Texten im Band „Im Herbst“ oder „Im Winter“ vom individuellen Autoverkehr als Erbsünde spricht, mit der wir umgehen, zu der wir uns irgendwie verhalten müssen. Ich habe immer gedacht: Man muss ein Auto haben als freier Journalist im Rhein/Ruhrgebiet, weil der öffentliche Nahverkehr so schlecht ausgebaut ist und man gerade abends einfach nicht mehr überall wegkommt. Mittlerweile denke ich: Man braucht vielleicht tatsächlich manchmal ein Auto, aber vieles geht auch ohne und im Zug hat man die Hände frei, kann lesen oder schreiben und Musik über Kopfhörer hören. Ich las einmal von einem Mann, der nach einer Nieren-OP an schwersten Panikattacken litt und nur auf stundenlangen Autofahrten etwas Linderung erfuhr. Ich konnte mich selbst in ihm erkennen, habe mein Freiheitsgefühl immer auch an den Besitz eines Autos gekoppelt, aber ich erinnere mich auch, welch große Freiheit ich auf langen Bahnfahrten fühlte oder auf dem Fahrrad in Berlin oder in Lohr am Main. Vielleicht musste das also gar nicht sein, dass ich mir jetzt einen Peugeot gekauft habe, Bolo 1983.

Ich denke an die Ruhr-Universität, die geplant wurde für Heimschläfer aus Unna oder Herne oder Recklinghausen oder Dorsten, die mit dem Auto anreisten, das Ihnen Mama und Papa oder Oma und Opa geschenkt hatten, und bei der trotzdem irgendwann ein Parkplatz-Chaos ausbrach, als die Parkhäuser nach 30, 40 Jahren marode wurden. Da konnte man sich dann entscheiden, ob man in überfüllten U-Bahnen anreiste, sein Fahrrad Treppen hinauf und hinunter schleppte oder irgendwo außerhalb parkte, beim Institut von Herbert Grönemeyers Bruder Dieter. Oder heißt er Dietrich?

Ich denke an Honke Rambow, der bei Facebook ständig neue Artikel über autofreie Innenstädte oder die Vorzüge des Tempolimits postet. Er hat mit allem Recht. Autofahren in Ländern mit Tempolimit ist unendlich viel entspannter. Autobefreite Innenstädte haben eine unendlich höhere Aufenthaltsqualität. Ich hasse die große Straße vor meinem Schlafzimmerfenster genauso sehr, wie dass ich dort nie einen Parkplatz finde. Es ist paradox und ich fühle mich schuldig.

Ich denke an ein Zitat des Fantasy-Autors George R. R. Martin, das ich irgendwann im Magazin Konkret las. Er sagte sinngemäß, dass er sich vor allem deshalb vom Science-Fiction- auf das Fantasy-Genre verlegt habe, weil er von der Zukunft enttäuscht wurde: Statt fliegender Autos und der Abschaffung des Kapitalismus wurde die Umweltverschmutzung größer, das System immer unerbittlicher und man habe es mit neuen, gewaltigen Krisen-Herden und Kriegen zu tun. Auch Bolo 1983 kann noch nicht fliegen. Er verbraucht sogar noch Benzin, angeblich 4,5 Liter auf 100 Kilometer, aber wahrscheinlich werden es mehr sein. Oh, Elektromobilität, mögest du dich schnell zur massentauglichen Technologie entwickeln. Oh, my Mindset, mögest du den öffentlichen Nahverkehr als akzeptable Alternative akzeptieren. Oh, Opa, wo immer du auch bist, sag: Würde dir Bolo gefallen? Könntest du dich mit einem Leben ohne eigenes Auto anfreunden?

Dienstag, 17. April 2018

In der Unterwelt

Es ist nicht einmal die Operation an sich, die mir Angst macht. Das ist ja ein gut nachvollziehbarer, letztlich mechanischer Vorgang: Mit einem kleinen, etwa fünf Millimeter großen Schnitt durch Haut und Fleisch legt der Chirurg einen Tunnel bis in die Niere und führt winzige Instrumente ein. Zum Beispiel einen Laser, mit der er meine Nierensteine zerschneiden kann. Und eine Schlinge, mit der er die Bruchstücke dann herausholt. Der Tunnel bleibt danach erstmal bestehen, durch einen Schlauch laufen Wundwasser, Urin und Blut durch einen Katheter nach draußen und baumeln in einem großen Beutel in der Nähe meines Körpers. Die Operateure behandeln den menschlichen Körper nicht groß anders als Kfz-Mechaniker ein Kfz: Flüssigkeiten werden abgelassen oder ausgetauscht, Leitungswege temporär umgelegt, der Vergaser vom Dreck gereinigt, der sich über die Jahre angesammelt hat.

Die Freunde, die meinen Zimmernachbarn Joris besuchen, sind alle im selben Motorrad-Club. Sie sprechen über Hubräume und Abgasrohre. Mit einem Motorradunfall hat Joris‘ Odyssee durch die Krankenhäuser der Umgebung angefangen: Seine erste OP behandelte einen komplizierten Bruch im Ringfinger. Danach bekam er Morbus Crohn, eine chronische Darmkrankheit. Dann kam der Hodentumor, vermutlich nicht gutartig, der ihn nun genau wie mich auf die Urologie in der Herner Panoramastation mit dem phantastischen Blick auf den Sonnenuntergang hinter einem Kraftwerk verschlägt. Joris ist 25 Jahre alt. Es gibt diese Geschichten, die alles relativieren.

Als er sich den Finger gebrochen hatte und seine erste OP bevorstand, hatte er auch noch Angst vor der Vollnarkose. So wie ich jetzt. Die Vorstellung, dass ich einfach an und ab geschaltet werde, dass da ein Arzt sitzt, der mein Leben in seinen Händen hält und wenige Milliliter eines Medikaments entscheiden können, ob ich nie wieder aufwache, ist grausam. Ich stelle mir den Narkosearzt vor wie den Fährmann Charon, der die Totgeweihten über den Styx bringt. Doch in Wirklichkeit sieht er aus wie der Comicbuchladenverkäufer von den Simpsons, wohl beleibt, die Haare zu einem Zopf gebunden, und erzählt mir: „Unsere Medikamente sind wirklich gut. Sie kriegen bei der Vollnarkose ein Schlaf- und ein Schmerzmittel. Mit dem Schlafmittel hat sich Michael Jackson aus dem Leben geschossen und mit dem Schmerzmittel Prince.“

„Ich es klug, das jemandem zu erzählen, der Angst vor der Narkose hat?“, frage ich.

In der Nacht vor der OP denke ich über die Nachbarschaft von Schlaf und Tod nach und versuche, mich in einem Zwischenreich zu halten. Ich döse, schwitze, wälze mich, werde von Visionen heimgesucht. Eine fühlt sich an wie einer dieser seltenen Momente der Klarheit über das Wesen unserer Existenz: Ich fühle, sehe, rieche, höre und schmecke zuerst deutlich, wie sich das Leben für mich gestaltet. Also für mein Ich, mein Ego mit seinen Genen, seiner Sozialisation, seinem geistigen Hintergrund, auf den alle Erscheinungen auf diese ganz spezielle, einzigartige Weise treffen. Dann gibt es einen Cut und ich nehme alle Perspektiven aller Lebewesen auf einmal wahr. Ich kehre zurück in das kosmische Kollektiv. Ja, so könnte Sterben sein. Wird es mir ein paar Stunden später passieren?

Ich erinnere mich an eine Sauerstoffmaske, die ich auf das Gesicht setze, während ich irgendeine Frage beantworten muss. Ich höre meine Antwort aus weiter Ferne. Dann liege ich im Aufwachraum und eine Schwester sagt: „Das ist Herr Bach, ihr Operateur!“

Ich erwidere euphorisch und hoch erfreut: „Herr Bach!!!“

Aber der Arzt dreht sich nur weg: „Es hat keinen Sinn.“

Fünf Stunden später erklärt er mir, dass er zu diesem Zeitpunkt schon zehn Minuten mit mir gesprochen habe. „Aber sie haben immer wieder dieselbe Frage gestellt.“

Meine Erinnerung ist allerdings eine lückenlose Erzählung: Ich habe ihn erfreut begrüßt und er hat sich weg gedreht. Aber ich darf meiner Erinnerung an diesen Moment wohl nicht trauen. Vielleicht funktioniert so Demenz: Das Gehirn spiegelt seinem Ich eine lückenlose Erfahrungswelt vor, aber die Lücken für die Welt da draußen werden immer größer. „Sie haben immer wieder dieselbe Frage gestellt.“

„Was habe ich denn gefragt?“

Herr Bach überlegt. „Das kann ich Ihnen jetzt nicht mehr sagen.“

Rund sieben Stunden ist es mittlerweile her, dass ich operiert wurde und immer noch bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich vielleicht doch gestorben bin und der Tod nur einen anderen Modus hat, als ich ihn mir vorgestellt habe. Die Welt, in der ich mich ungelenk bewege, wirkt wie eine leicht verschobene Parallelwelt. Die Menschen verhalten sich ungefähr so wie ich es von vor der OP kenne, aber irgendetwas ist anders. Ihre Bewegungen langsamer, die Sprache gedämpft… Nein, eigentlich ist alles wie immer, aber es fühlt sich nicht richtig an.

Aus meiner linken Körperseite führt ein Schlauch direkt aus der Niere kommend blutig-eitrige Flüssigkeit in einen Beutel. Aus meinem Penis führt ein Schlauch blutiges Urin in einen Beutel. Über einen Zugang an meinem Arm wird ein Schmerzmittel eingeführt, später Kochsalzlösung. Hier raus, da rein. Mein Körper ist eine Maschine. Sie wird langsam wieder eingeschaltet.

„Wahrscheinlich habe ich alle Steine ausgeräumt“, erklärt Dr. Bach bei der Visite. Er hängt sich gemütlich in einen Stuhl und erklärt mir ungefähr eine halbe Stunde lang alle Verfahren zur Nierenstein-Entfernung, ihre Vor- und Nachteile und warum es am Ende doch nicht so viel Sinn macht, genau zu wissen, woraus die Nierensteine nun bestanden: „Es gibt in jedem Fall drei gute Tipps zur Steinvermeidung: Abspecken, Bewegung und viel Trinken – rund um die Uhr.“

Ich frage mich: „Wieso nimmt der sich so viel Zeit?“ und stelle dann die unweigerliche Frage, die immer ein wenig nach Gefängnisinsasse klingt: „Wann komme ich denn raus?“ Dr. Bach nennt drei Cliffhanger: „Es könnte sein, dass noch Steine in der Niere verblieben sind.“ „Es könnte sein, dass sich ein Bruchstück im Harnleiter verfangen hat und der Urin nun nicht in die Blase abfließen kann.“ „Es könnte sein, dass Sie Fieber bekommen.“

Falls das alles nicht passiert, kann ich zwei Tage später nach Hause gehen. Der fünf Millimeter große Tunnel, durch den Instrumente in meine Niere eingefahren sind, wächst dann von alleine zu. Ich muss nur ab und an überprüfen, ob er nicht feucht ist. Das ist die Ungewissheit, die bleibt: Ob der Tunnel auch richtig zuwächst. Joris wird in den nächsten Tagen auf die Analyse seiner Krebsmarker warten – vielleicht hat der Tumor gestreut. Dabei will er doch einfach nur Motorrad fahren.