Sonntag, 27. Oktober 2019

Über den Wolken

Ich habe wirklich keine Ahnung von Jacques Brel. Den Song „Eventuell Jacques Brel“ habe ich wegen eines Thekengesprächs vor langer Zeit geschrieben, wegen des Binnenreims im Satzfragment, das in diesem Gespräch fiel und das wahrscheinlich bloß Ausdruck dieser Ahnungslosigkeit war: „Hat nicht schonmal jemand einen Song gemacht über diese besondere Nachtstimmung am Tresen?“ -„Ich weiß nicht… Eventuell Jacques Brel?“ Jetzt sitze ich beim Frühstück vor meiner bescheidenen Plattensammlung und ziehe eine raus: Brel. Vier Buchstaben auf einem blauen Himmel mit Wolken, schwereren Wolken als auf dem Cover von The Plastic Ono Bands „Live Peace in Toronto“ oder Flowerpornoes „Umsonst und Draußen“. Stimmt, die habe ich mal auf einem Flohmarkt gekauft und vielleicht ein halbes Mal aufgelegt. Jetzt läuft sie und auf dem Smartphone Wikipedia: „Brel“ ist von 1977, heißt auch „Les Marquises“ und ist sein letztes Album. Wie? Der französische Nationalheld ist 1978 schon gestorben? Vor über 40 Jahren? Habe ich nicht mal so ein Biopic über ihn gesehen von diesem Comiczeichner und da starb er erst in den 1990ern? Ach nee, das war „Gainsbourg“ von Joann Sfar. Peinlich. Jacques Brel jedenfalls wusste seit 1975, dass er schwer krank war. Da hatte er einen Zusammenbruch, Krebsdiagnose, in Brüssel wurde ein Teil seiner Lunge entfernt und die Aussicht auf eine lange Zukunft verstellt. Brel segelte um die Welt, wurde wie vor ihm Gaugin auf Hiva Oa, einer der Marquesas-Inseln mitten in Polynesien im Pazifik, heimisch, machte einen Pilotenschein. Die Welt erleben per Schiff und per Flugzeug, Eindrücke einsaugen ehe sie für immer verschwinden. Noch einmal in Poesie verwandeln, in kristallklare Sprache, mit Dringlichkeit singen, nur zwei Lieder pro Tag im Studio, mehr schafft er nicht mehr, aus zwölf wird das Album, das die Plattenfirma bis zum Tag seiner Veröffentlichung geheim hält, sich dann aber millionenfach verkauft, dessen letztes Chanson von den Marquesas handelt, französisch „Les Marquises“. Die Ärzte haben ihm eigentlich davon abgeraten, dort zu leben. Das tropische Klima sei nicht gut für die Lunge. Und jetzt singt er: Das Herz ist Reisender. Die Zukunft zufällig. […] Weißt du was? Jammern ist nicht angebracht – auf den Marquesas.

Wie lebt man in der Gewissheit, dass der Tod wahrscheinlich schneller naht als vor kurzem noch angenommen? Ich habe mal einen getroffen, der hat sich zugesoffen wie nichts Gutes und seinen Körper durch diese Welt bewegt wie Super Mario im Unverwundbarkeitsmodus. Das ist eine Möglichkeit. Tim zerteilt einen Apfel mit dem Messer und alle im Raum bekommen ein Stück. Und noch eins. „Möchtest du noch?“, fragt er jede und jeden in der verrauchten Küche und hält die Hand mit dem Stück frischen Apfel hin, letzte Nacht gepflückt im Schrebergarten nebenan, von der Schnittkante fällt ein süßsaurer Tropfen zu Boden. Die Leute hier werden die Nacht durch rauchen, kiffen, trinken, essen, labern. Tim wird irgendwann ins Bett gehen und morgen früh arbeiten, dann zur Dialyse. Er finanziert die große Wohnung, die sich über eine ganze Etage eines schönen Stadthauses erstreckt. Lebt er für sich oder für andere? Oder ist das dasselbe? Er öffnet die Tür mal um mal, wenn die Klingel geht. Manchmal kommen 30 Leute, hängen auf Stühlen, liegen auf Matratzen, konsumieren, musizieren, reden, kochen, drehen die Anlage lauter. Tim liegt auf dem Teppich. Atmet er noch? Er steht auf und jongliert mit drei leuchtenden Bällen. Die hat er sich mal gegönnt. Ansonsten gönnt er sich nicht viel. Doch, den zweiten Flug nach Kairo, nachdem er den ersten knapp verpasst hat. Schwere Wolken verhängen die Aussicht auf den blauen Himmel. Von oben verstellen sie die Sicht auf die Erde und was da so los ist. Aber von hier aus sehen sie so leicht aus.