Dienstag, 10. Januar 2012

Sigmar Gabriel

Da sitzt er nun, regungslos. Auf Standby, kann man sagen. Vor ihm: die Meute. Wobei: Eine Meute kann man die Studierendenschaft von heute ja auch nicht mehr nennen. In meiner romantisierten Vorstellung hätte es an der Ruhr-Universität noch vor wenigen Jahren einen Häufchen Aktive gegeben, die sich als etwas linker als die SPD verstehen und den Besuch des Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel zum Anlass für eine Demonstration genommen hätten. Gegen Sozialabbau. Oder irgendwas mit Studienbedingungen. Aber selbst das ist heute ja wieder schwierig: Die SPD in ein eindeutiges Feindbild einzubetten. Damals, 1998, als Gerhard Schröder sich anschickte, Kanzler zu werden, da sind wir hin zum Parteitag in der Bochumer Ruhrlandhalle. Die Wahlplakate mit ihm und seinem staatsmännischen Grinsen hatten wir von den Laternenmasten gerissen und trugen sie hoch erhoben, aber falschherum hinein, um zu zeigen: Wir möchten ja schon, dass nach 16 Jahren Kohl mal etwas anderes kommt, deshalb tragen wir deine Rübe durch die Gegend. Aber wir sind skeptisch, ob du das wirklich besser machen wirst, Herr Schröder. Beweis das erst mal, dann drehen wir das Ding vielleicht herum.
Auf eine merkwürdige, kaum zu fassende Art, habe ich Gerhard Schröder dann doch gemocht. Die großen Reportagen der glücklichen Redakteure der Süddeutschen Zeitungen verschlungen, die mit ihm auf Staatsreisen gehen durften. Sie reagierten natürlich wie jahrzehnte geschlagene, geschundene Hunde, die man plötzlich wieder streichelt: Verzückt, nahezu überdreht freudvoll berichteten sie vom gemeinsamen Rotweintrinken im Flugzeug, Fußballspielen mit dem mexikanischen Präsidenten, dem kulturaffinen, offenen und freien Wesen der neuen Alpha-Männer.
Und nun, wo Alpha-Männer ein wenig aus der Mode geraten sind, sitzt da also Sigmar Gabriel vor den Studierenden der Ruhr-Universität. Brav warten sie auf den Sitzen, Treppenstufen, unter Tischen, Tafeln, begraben unter Jackenbergen und Kamerastativen. Der Raum ist so voll, dass er einem kubistischen Gemälde gleicht: Irreale Formen, unzusammenhängende Körperteile. Vorne Sigmar Gabriel als nasser Sack, der von einem älteren Typen mit Bart vollgequatscht wird, den die Insiderstudentinnen von unter der Tafel nur "Häkelmützchen" nennen. Weil er eine Häkelmütze trägt. Am Ende seines aus der Ferne unverständlichen Monologs überreicht er dem SPD-Vorsitzenden eine Klarsichthülle mit selbstgemalten Unterlagen. Sigmar Gabriel nimmt sie freundlich entgegen. Hier wundere ich mich das erste Mal: Der Politiker war mir bisher wenig, und wenn, dann eher negativ aufgefallen. In der Phase vor meiner Politikverdrossenheit, also während der Regierung Schröder, geisterte er als gescheiterter niedersächsischer Ministerpräsident durch die Medien, der den großen Gerhard natürlich nicht beerben konnte. Man schob ihm den Posten des "Popbeauftragten" der Bundesregierung zu. Absurd. Fast noch bescheuerter als Dieter Gorny. Damit war er für mich abgehakt. Und nun sitzt er hier nur wenige Zentimeter vor mir und ist nett zu einem Vollfreak mit Häkelmütze. Respektvoll. Bei seinem Vortrag bin ich dann völlig baff: Er ist redegewandt, schnell, witzig, selbstironisch, total reflektiert. Sieht das Ende des Marktradikalismus und Neoliberalismus, weil es so ja nun wirklich nicht weiter geht. Geld darf nicht mehr die Welt regieren. Er sieht das total ein, dass keiner mehr Vertrauen in Politiker hat. Nennt ein Beispiel, wo die eigene Partei Mist gebaut hat: Als sie sich im Wahlkampf deutlich gegen eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ausgesprochen hat und sie dann in der großen Koalition mit der CDU prompt um drei Prozent erhöhte. O-Ton Gabriel: "Weil die Forderung der SPD nach null Prozent Erhöhung mit der der CDU nach zwei Prozent Erhöhung in der Summe natürlich drei Prozent ergab." Das gefällt hier allen. Auch seine Einschätzung, dass man als SPD-Mann vor 20 Jahren noch vor Arbeitern sprechen und als einer von ihnen anerkannt wurde. Heute würde man hingegen als Alien, als einer von denen da oben angesehen - weil man ja Politiker sei. Diese fast schonungslose Selbstreflektion und auf eine Art entwaffnende Ehrlichkeit macht etwas mit dem jungen Wissenschaftlernachwuchs: Im großen Hörsaal sind bald alle verliebt in Siggi. Selbst mir fällt es schwer, die journalistische Distanz zu wahren. Der Ringbuchblock ist voll begeisterter Adjektive, die ich jetzt glücklicherweise nicht mehr lesen kann, weil sie so emphatisch dahingeschmiert wurden. Nach der Aufforderung zur Diskussion hätten die Studierenden ihren neuen Lieblingspolitiker am liebsten nur noch wortlos in den Arm genommen. Ein bis vor wenigen Minuten noch neoliberaler Wirtschaftsstudent mit Anzug und Krawatte unternimmt den zögerlichen Versuch einer kritischen Nachfrage. Irgendwas mit Wettbewerbsverzerrung durch Mindestlohn. Doch ihm ist deutlich anzumerken, dass er ideologisch längst umgeschwenkt ist, bloß noch keine Worte für seine sozialdemokratische Gesinnung hat. Bereits der nächste in der Fragerunde spricht aus, was allen auf den Herzen brennt: "Wenn sie Kanzler würden..." Weiter kommt er gar nicht, weil tosender Applaus ausbricht. Ja, Sigmar Gabriel als Kanzler! Etwas schöneres ist kaum vorstellbar! Sogar Häkelmützchen wirkt jetzt ruhig und entspannt. Als er vor versammelter Mannschaft noch einmal das nervöse Wort erhebt, bestärkt der zukünftige Kanzler sein Versprechen, dass er sich um sein Rentenversicherungsproblem persönlich kümmern werde. Niemand hier, der das bezweifelte.