Dienstag, 20. August 2013

Mein Beatles-Poster

Seit etwa zwölf Jahren hängt dieses Beatles-Poster über meinem Sofa und ich frage mich in regelmäßigen Abständen, ob ich selbst irgendwo hängen geblieben bin. Ich meine, das Poster ist wirklich extrem schön: Die vier Beatles, Gott habe zwei davon selig, stehen mit Pilzköpfen und hochgeschlagenen Mantelkragen in einer Herbstlandschaft und schauen ein wenig melancholisch. Wenn ich es mir recht überlege, ist das eins der schönsten Bandfotos, das ich kenne. Bandfotos sind ja meistens so was von bescheuert. Die Mitglieder der Bands geben sich immer entweder hart oder cool oder lustig, sie schauen entweder extrem in die Kamera oder extrem nicht. Sie können aber leider nie darüber hinweg täuschen, dass sie eine Band sind, die fotografiert wird. Ein anderes gutes Bandfoto, das ich kenne, ist von The Arcade Fire. Anton Corbijn hat sie in schwarz-weiß irgendwie von sehr weit weg und oben fotografiert, wie sie hintereinander über eine Straße zum Meer laufen wie Lemminge. Gesichter spielen auf diesem Foto überhaupt keine Rolle und das finde ich gut. Auf dem Beatles-Poster spielen die Gesichter die eine, große Rolle und das finde ich auch gut. John, Paul, George und Ringo schauen alle in die Kamera, aber nicht extrem. Auch nicht stolz oder hart oder cool. Sie haben den Umgang mit der Kamera schon so circa zwei bis drei Jahre lang gelernt (angefangen bei Astrid Kirchherr in Hamburg, wo sie noch ganz bescheuert gucken) und schauen jetzt – ganz natürlich. So wie sie eben gerade gucken wollen. Man sieht: sie sind gerade in den USA angekommen, neugierig, vielleicht etwas unsicher, erschöpft. Vielleicht blitzt sogar der erste Gedanke daran auf, dass das alles mal zu viel werden könnte – die Beatles zu sein. Dass sie irgendwann keine Live-Konzerte spielen können, weil alle nur schreien und die Anlagen für diese Anforderungen einfach zu leise sind. Das Poster ist für mich also mehr als ein Poster der Beatles. Kinder hören die Beatles. Und alte Leute. Die Beatles sind uncool, weil sie nicht wirklich Rock’n’Roll und schon gar nicht Disco oder Afrobeat oder Jazz oder Elektronik spielen, gespielt haben. Aber erstmal ist Coolness doch eh für den Arsch. Ich wollte doch versuchen, mich nicht mehr so sehr über andere Leute zu definieren. Also frage ich mich: Was bedeutet das Beatles-Poster für mich? Das Paradies der Kindheit zum einen, ganz klar. Zum anderen den Ausdruck der Komplexität von Freundschaftsbeziehungen und von Unsicherheit in Bezug auf so vieles: Sind die Beatles unsicher, was ihre Zukunft und sie selbst betrifft? Oder sind sie vielleicht doch nur ein zusammengecasteter Haufen von Robotern, deren Gesichtsausdrücke für dieses Foto exakt eingestellt wurden, damit sich Generationen von Menschen darin wiederfinden und gleichzeitig verlieren? Ist dieses Foto eine der raffiniertesten Fallen der Kulturindustrie?
Ich finde gut, dass die Beatles-Show „Let It Be“ vom Londoner West End mich zu dieser Reflexion angeregt hat. Da war sie wenigstens zu irgendetwas nütze. Ich meine, da stand über zwei Stunden eine Beatles-Coverband auf der Bühne und spielte Beatles-Coverversionen. Schon ordentlich, ja. Aber George war kein Gitarrengenie, John konnte nicht wirklich Klavier, Ringo nicht singen, also gar nicht, und Paul war Rechtshänder. Und dann spielten sie sich natürlich durch das Gesamtwerk und nicht nur durch die live aufführbaren Stücke. Was dazu führte, dass irgendwann ein Keyboarder nicht nurmehr hinter, sondern auf der Bühne saß und zum Beispiel versuchte, die geniale Studiotüftelei „A Day In The Life“ bühnenfertig zu dudeln. Peinlich. Der einzige, der diesen Song live aufführen kann, ist Neil Young. Weil in seiner E-Gitarre ein durchgeschütteltes, rückwärts abgespieltes Orchester steckt. Bei der Beatles-Show „Let It Be“, die übrigens im Kölner Musical Dome in der Nähe des richtigen Doms gastierte, waren fast ausschließlich graue Menschen, die sich den Eintritt leisten konnten. Menschen, die diese Musik, also das Original jetzt, meiner Meinung nach gar nicht verstanden haben können. Und die genau für dies uncoole Image der Beatles gesorgt haben, mit dem ich jetzt innerlich zu kämpfen habe – jedes Mal wenn ich auf meinem Sofa liege. Ich lasse das Poster trotzdem erstmal hängen. So.

Montag, 12. August 2013

Bubbles: 30 Jahre Haldern Pop

Die Momente, in denen ich wirklich gern sterben würde, haben immer mit Musik zu tun. Als ich zum dritten oder vierten Mal das Köln Concert hörte und mich die Töne in diese seltsame Trance zwischen Melancholie, Glück und absoluter Klarheit versetzten – Klarheit scheinbar in Bezug auf alles. Dann das Konzert der Unthanks in der Kölner Kulturkirche: Nach einem heftigen Streit mit meiner damaligen Freundin gaben mir die Vokalharmonien der englischen Schwestern zum ersten Mal eine Ahnung davon, was der Pastor in der Sonntagschule gemeint haben konnte mit der absoluten Reinheit des Engelsgesangs (den Gemeindechor nämlich sicher nicht). Was für ein Soundtrack für den Weg zum Himmel! Oder ins Nirwana. Oder wohin auch immer. Was das jetzt alles mit dem Haldern Pop Festival am Niederrhein zu tun hat? Na, da gibt es auch seit zehn Jahren immer mindestens einen Moment, in dem ich mit mir und der Welt völlig im Reinen bin und alles seine Ordnung hat. Einen perfekten Moment zum Abtreten.

Vergangenes Jahr war das die überraschende Begegnung mit Bob Dylan, genauer: der Beginn unseres Gesprächs über Seifenblasen. Dem bekannten US-amerikanischen Folksänger war aufgefallen, dass hier, auf dem Haldern Pop, seiner Konzerterfahrung nach außergewöhnlich viele Menschen Seifenblasen in die Lüfte bliesen. „Bubbles“, pflegte er zu sagen und dabei das „u“ wie ein deutsches „u“ und nicht wie ein „a“ auszusprechen. Ständig unterbrach er seine Sätze, zeigte mit dem spitzen Zeigefinger seiner dürren, rechten Hand irgendwo hin: „Look at these bubbles.“ Nach der dritten oder vierten Unterbrechung versank er minutenlang in Gedanken. Um dann zu befinden: „Sie erinnern uns das Sterben und gleichzeitig an die vielen schönen Momente, die wir auf dem Weg dorthin erleben. Im besten Fall trifft beides zusammen – wie beim Zerplatzen einer Seifenblase.“ Wie praktisch in jeder Phase des Gesprächs mit Dylan hätten wir eigentlich nur Nicken und aus vollem Herzen „Genau“ sagen wollen. Aber wir wollten natürlich auch, dass das Gespräch weiterging und mehr Weisheiten gebar. Also fragte ich: „Haben die Seifenblasen nicht auch etwas mit dem Wesen der Popmusik zu tun: Der schöne Schein mit kurzer Halbwertzeit? Die hochfliegenden Träume, immer etwas zu schillernd, um der Realität standzuhalten?“ Was für ein unglaublicher Journalistenblödsinn, dachte ich, gleich nachdem ich diesen unausgegorenen Gedankenmost ausgesprochen hatte. „I'm sure you're right, man”, sagte der berühmte Singer/Songwriter. So, dass völlig klar war, dass er sich alles andere als sicher damit war.

Auf dem diesjährigen Haldern, dem 30. Jubiläum des Indiepop-Festivals, hatte die Seifenblasendichte scheinbar noch zugenommen. Menschen jeder Altersgruppe – Jugendliche aus der Nachbarschaft, Großstadt-Nerds und Hipster um die 20, ganze Familien in eleganter, moderner Hippie-Tracht, silberne Altrocker – sie schossen aus allen Rohren: Mit der normalen Pustefix-Ausrüstung, mit lautlosen oder laut quietschenden, automatischen Pistolen, die massenweise feine, kleine Blasen ausspuckten, mit Riesenblasenringen oder so einem länglichen Ding, dass Knubbel aus verschieden großen Seifenblasen in das Sonnenuntergangslicht entließ. Kein Foto durfte gemacht werden, ohne das jemand eine Seifenblase darüber blies. Kein Sänger nahm bloß ein Bad in der Menge, immer ließ er sich auch auf einen Tanz mit Seifenblasen ein. Und wisst ihr was? Ich fand das gut.

Wo wir schon beim Thema Fotografieren sind (vier Sätze weiter oben): Auf dem Haldern wird lomographiert. Niemand hier besitzt ein Smartphone. Niemand hier würde ein Foto derart entwerten, dass er es per Snapchat, Instagram, Flickr, Tumblr, Twitter, Facebook oder was auch immer mal eben an seine „Freunde“ (was sind das für Freunde?) absetzte. Auf dem Haldern wird jeder Moment mit vollen Sinnen erlebt und nicht in den leeren Raum geteilt. Das klingt jetzt vielleicht überspitzt und ironisch, aber die Sache hat doch einen wahren Kern, den ich in unserer Camping-Gruppe fand. Über viele Jahre ist sie zusammengewachsen aus Kölnern, Frankfurtern, Wienern, Istanbulern, Bochumern, Dortmundern Duisburgern, Leverkusenern, Göttingern und so weiter. Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen, Vorlieben, Geschmäckern, Schlaf-Wach-Rhythmen, Trinkfestigkeiten – die eines eint: Das Festival auf der Kuhwiese im kleinen Dorf Haldern am Niederrhein als erweiterte, neue, bessere Heimat zu fühlen. Schon am zweiten Tag war allen ins Gesicht geschrieben: „Bald ist es wieder vorbei, wie schrecklich.“


Den ganzen Samstagnachmittag bildeten wir auf dem tropisch grünen Sitzsack der Dortmunder eine Kuscheltrutzburg gegen das unabwendbare Übel. „Was für ein guter Moment, um zu sterben“, dachte ich, aber das Herz schlug gleichmäßig. Wir lagen da und starrten durch geliehene Nerdsonnenbrillen auf schmale Wolkenfetzen, als ich plötzlich eine junge Frau bemerkte, die im Schneidersitz an der Feuerstelle Platz genommen hatte. Ich sagte ihr ein freundliches und ehrerbietendes „Hallo“. „Hallo“, entgegnete sie und blickte uns aus tiefbraunen Augen an, die wie hinter einem Schleier lagen. Ihr Blick war mit offenen Augen verschlossen. „Ich beobachte das in letzter Zeit verstärkt, dass die Menschen sich aneinander festhalten“, sagte sie dann. „Was wir heute soziales Netzwerk nennen, ist eigentlich nur ein Ausdruck von Macht, ein Statussymbol, ein Erfolgmessgerät, ein Schmuckstück. Das Bedürfnis nach menschlicher Wärme und Liebe verstärkt es nur, es verzerrt die Wirklichkeit, verschiebt die Verhältnisse. Das Internet scheint dafür gemacht, Blasen zu produzieren.“ Und dann, was ich wirklich schräg fand, wiederholte sie das Wort noch einmal auf Englisch: „Bubbles“. Mit einem deutschen „u“.

Ich fragte Anna, woher sie kommt. Sie sagte, dass ihre zweite Heimat, die nach dem Haldern, eine schöne Stadt im Ruhrgebiet sei. Eine, die niemandem als schön gelte: Den einen sei sie zu provinziell, den anderen zu grau, den wieder anderen zu fad und den ganz anderen bot sie zu wenige Arbeitsplätze im Medienbereich. Anna jedoch hatte in Bochum ihr Paradies auf Erden gefunden. Unprätentiöse Menschen, direkt, offen und ehrlich, illegale Goa-Partys auf versteckten, grünen Brachgeländen, Bienenstöcke auf dem WG-Balkon, verwunschene Stadtviertel und ein Wellenfreibad. Wer wohnt schon in Düsseldorf? Ich erinnerte mich, dass einer meiner Arbeitgeber, die Redaktion eines Stadtmagazins, in Bochum residierte. Einen Tag nach Ende des Haldern-Jubiläums steckte ich tief in der Nach-Festival-Depression. Das Leben machte keinen Sinn mehr und ich mich auf, das Stadtmagazin zu besuchen. Die Stimme des Redakteurs klang am Telefon immer so sanft und beruhigend. „Du überziehst jede Deadline“, schimpfte er beim Besuch in Bochum. „Aber weil du so traurig bist, will ich dir jetzt ein Eis kaufen. Zwei Kugeln im Hörnchen: Himbeer-Minze und Gurke.“ Das Bochumer Eis sei sehr lebenswert und habe schon viele zerstörte Männer wieder auf die Beine gebracht.


Nachtrag:
Bands haben auch gespielt auf dem 30. Haldern Pop. Aber das kann man ja heute in der Printausgabe der Ruhr Nachrichten nachlesen.