Vergangenes Jahr war das die überraschende Begegnung mit Bob Dylan, genauer: der Beginn unseres Gesprächs über Seifenblasen. Dem bekannten US-amerikanischen Folksänger war aufgefallen, dass hier, auf dem Haldern Pop, seiner Konzerterfahrung nach außergewöhnlich viele Menschen Seifenblasen in die Lüfte bliesen. „Bubbles“, pflegte er zu sagen und dabei das „u“ wie ein deutsches „u“ und nicht wie ein „a“ auszusprechen. Ständig unterbrach er seine Sätze, zeigte mit dem spitzen Zeigefinger seiner dürren, rechten Hand irgendwo hin: „Look at these bubbles.“ Nach der dritten oder vierten Unterbrechung versank er minutenlang in Gedanken. Um dann zu befinden: „Sie erinnern uns das Sterben und gleichzeitig an die vielen schönen Momente, die wir auf dem Weg dorthin erleben. Im besten Fall trifft beides zusammen – wie beim Zerplatzen einer Seifenblase.“ Wie praktisch in jeder Phase des Gesprächs mit Dylan hätten wir eigentlich nur Nicken und aus vollem Herzen „Genau“ sagen wollen. Aber wir wollten natürlich auch, dass das Gespräch weiterging und mehr Weisheiten gebar. Also fragte ich: „Haben die Seifenblasen nicht auch etwas mit dem Wesen der Popmusik zu tun: Der schöne Schein mit kurzer Halbwertzeit? Die hochfliegenden Träume, immer etwas zu schillernd, um der Realität standzuhalten?“ Was für ein unglaublicher Journalistenblödsinn, dachte ich, gleich nachdem ich diesen unausgegorenen Gedankenmost ausgesprochen hatte. „I'm sure you're right, man”, sagte der berühmte Singer/Songwriter. So, dass völlig klar war, dass er sich alles andere als sicher damit war.
Auf dem diesjährigen Haldern, dem 30. Jubiläum des Indiepop-Festivals, hatte die Seifenblasendichte scheinbar noch zugenommen. Menschen jeder Altersgruppe – Jugendliche aus der Nachbarschaft, Großstadt-Nerds und Hipster um die 20, ganze Familien in eleganter, moderner Hippie-Tracht, silberne Altrocker – sie schossen aus allen Rohren: Mit der normalen Pustefix-Ausrüstung, mit lautlosen oder laut quietschenden, automatischen Pistolen, die massenweise feine, kleine Blasen ausspuckten, mit Riesenblasenringen oder so einem länglichen Ding, dass Knubbel aus verschieden großen Seifenblasen in das Sonnenuntergangslicht entließ. Kein Foto durfte gemacht werden, ohne das jemand eine Seifenblase darüber blies. Kein Sänger nahm bloß ein Bad in der Menge, immer ließ er sich auch auf einen Tanz mit Seifenblasen ein. Und wisst ihr was? Ich fand das gut.
Wo wir schon beim Thema Fotografieren sind (vier Sätze weiter oben): Auf dem Haldern wird lomographiert. Niemand hier besitzt ein Smartphone. Niemand hier würde ein Foto derart entwerten, dass er es per Snapchat, Instagram, Flickr, Tumblr, Twitter, Facebook oder was auch immer mal eben an seine „Freunde“ (was sind das für Freunde?) absetzte. Auf dem Haldern wird jeder Moment mit vollen Sinnen erlebt und nicht in den leeren Raum geteilt. Das klingt jetzt vielleicht überspitzt und ironisch, aber die Sache hat doch einen wahren Kern, den ich in unserer Camping-Gruppe fand. Über viele Jahre ist sie zusammengewachsen aus Kölnern, Frankfurtern, Wienern, Istanbulern, Bochumern, Dortmundern Duisburgern, Leverkusenern, Göttingern und so weiter. Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen, Vorlieben, Geschmäckern, Schlaf-Wach-Rhythmen, Trinkfestigkeiten – die eines eint: Das Festival auf der Kuhwiese im kleinen Dorf Haldern am Niederrhein als erweiterte, neue, bessere Heimat zu fühlen. Schon am zweiten Tag war allen ins Gesicht geschrieben: „Bald ist es wieder vorbei, wie schrecklich.“

Ich fragte Anna, woher sie kommt. Sie sagte, dass ihre zweite Heimat, die nach dem Haldern, eine schöne Stadt im Ruhrgebiet sei. Eine, die niemandem als schön gelte: Den einen sei sie zu provinziell, den anderen zu grau, den wieder anderen zu fad und den ganz anderen bot sie zu wenige Arbeitsplätze im Medienbereich. Anna jedoch hatte in Bochum ihr Paradies auf Erden gefunden. Unprätentiöse Menschen, direkt, offen und ehrlich, illegale Goa-Partys auf versteckten, grünen Brachgeländen, Bienenstöcke auf dem WG-Balkon, verwunschene Stadtviertel und ein Wellenfreibad. Wer wohnt schon in Düsseldorf? Ich erinnerte mich, dass einer meiner Arbeitgeber, die Redaktion eines Stadtmagazins, in Bochum residierte. Einen Tag nach Ende des Haldern-Jubiläums steckte ich tief in der Nach-Festival-Depression. Das Leben machte keinen Sinn mehr und ich mich auf, das Stadtmagazin zu besuchen. Die Stimme des Redakteurs klang am Telefon immer so sanft und beruhigend. „Du überziehst jede Deadline“, schimpfte er beim Besuch in Bochum. „Aber weil du so traurig bist, will ich dir jetzt ein Eis kaufen. Zwei Kugeln im Hörnchen: Himbeer-Minze und Gurke.“ Das Bochumer Eis sei sehr lebenswert und habe schon viele zerstörte Männer wieder auf die Beine gebracht.
Nachtrag:
Bands haben auch gespielt auf dem 30. Haldern Pop. Aber das kann man ja heute in der Printausgabe der Ruhr Nachrichten nachlesen.
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