Es fühlte sich überraschend perfekt an, ganz allein auf dem
Zeltplatz. Im Campingstuhl am Chaostisch unter den Baumarkt-Pavillons.
Irgendein Biermix-Zeug im Getränkehalter. Im Westen ein goldener Sonnenuntergang. Aus dem Osten dröhnt Musik. Die
Tune-Yards? Egal. Mit der Gitarre in der Hand die zweite Strophe von Katja
niedergeschrieben: „Katja glaubt schon lange an das Ende / Und das es ganz
bestimmt schon sehr bald kommen wird.“ Ganz bestimmt schon sehr bald… kann man
nicht komplett zufrieden mit sein. Aber es wird wohl klar: Katja glaubt ans
Ende. Der Welt? Wahrscheinlich. Zumindest ihrer Welt. Vielleicht wartet sie
sogar darauf. Die anderen kommen zurück. Trinken, talken, grillen. Am
eigentlich blauen Horizont blitzt kurz die Ahnung einer schwarzen Wolke auf.
Eine sehr dichte Wolke, die aus Vögeln zu bestehen scheint. Aus schwarzen
Raben, die zu Asche zerfallen oder so. Die Asche wird zu einem Mann im schmal geschnittenen dunklen
Anzug mit Stock und Hut. Er wandert umher, aber geht ein wenig unrund. Wie ein
Huhn. Oder Geier.
Ich denke zurück an mein erstes Haldern-Festival. 2003 muss
das gewesen sein. Patti Smith spielte zum 20. Jubiläum. Die legendäre Patti
Smith. Vor ihrem Auftritt spazierte sie gedankenverloren über den Zeltplatz.
Einfach so. Die Leute tuschelten: „Ist das Iggy Pop?“ Bald verbreitete sich die
Nachricht: Die berühmte Künstlerin, beste Interpretin von Springsteens „Because
The Night“, läuft hier einfach so umher. Ganz volksnah. Wie auf der Suche nach
dem Woodstock-Spirit, beziehungsweise dem, was heute davon übrig ist. Das hat
ihr ganz schön Zeltplatz-Credibility eingebracht. Ob sie sich tatsächlich mit
Festivalbesuchern unterhalten hat, ist nicht überliefert.
Anders als meine Geschichte. Sie handelt von tba, also dem
freien Slot auf dem Haldern-Spielplan ein Jahr vor dem 30. Jubiläum. Schnell
machte ein absurdes Gerücht die Runde: Bob Dylan sollte ihn füllen. Es ist
klar, was das heißt: Alle halten das für groben Unsinn – unwahrscheinlicher
geht’s ja auch nicht – aber sind auch fasziniert. Gerüchte über die noch
geheimen Bands haben hier bislang immer gestimmt. Und jetzt wackelt da dieser
Mann im schwarzen Anzug umher. Während ich die Worte der zweiten Katja-Strophe
im Kopf jongliere, beobachte ich die Szenerie. Und stelle bei genauerem
Hinsehen fest: Der Mann wird verfolgt von zwei oder sogar drei weiteren Typen.
Sie sehen ziemlich unauffällig aus, das heißt: sie sind nur unwesentlich älter
als der für Popfestivals doch relativ alte Durchschnittsbesucher hier und
tragen irgendwie so Jeans und T-Shirt. Sie halten sich in ziemlich sicherer
Entfernung, das heißt: sie könnte einen Angreifer höchstwahrscheinlich vor dem
Tod des berühmten Songwriters erledigen, werden aber trotzdem nicht gleich blöd
als Bodyguards erkannt.
Während ich so daher denke, kommt mir plötzlich alles gar
nicht mehr so unwahrscheinlich vor: Bob Dylan spielt momentan fast immer vor
fünf- bis siebentausend Zuschauern, also genau der Haldern-Besucherzahl. Er mag
Open-Airs. Der Wind, der (Antworten) über die Bühne weht, entlockt ihm manchmal
ein Lächeln. Und die Sonne erleichtert ihm den Blues. Er mag es, neue
Generationen zu knacken und nicht immer dieselben eingerosteten Visagen bei
seinen Konzerten zu sehen. Etwas in der Art sagt er jedenfalls in seinen
Chronicles. Ich glaube: Er schaut deshalb selten bis nie ins Publikum, weil er
Angst vor diesen Gesichtern hat – und dass er sie als Spiegel deuten könnte.
Und warum sollte dieser Bob Dylan, den man sich zwar nur hinter den getönten
Scheiben eines Tourbusses vorstellen kann, den Tourbus nicht dann und wann verlassen?
Immerhin ist sein Leben eine Never-Ending-Tour und irgendwo muss die Erfahrung doch
herkommen, die weiter alle paar Jahre ein Album füllt.
Vielleicht, weil wir so ein schönes Bild abgeben, kommt das
kleine, schwarze Männlein nun auf uns zu. Stefan und Ariane sitzen auf einem
riesigen Aufblas-Sofa und kiffen. Die Truppe um Linda verkohlt Brot und
Würstchen auf dem Grill. Die Schweizer singen sich einmal quer durch ihr
Beatles-Songbook. Und gerade, als sie durch den Paul-McCartney-Part von „A Day
In The Life“ gestolpert sind und die letzte Lennon-Strophe anstimmen, bleibt
Dylan in fühlbarer Entfernung stehen. Die mit dem meisten Alkohol intus bringen
den Song zu Ende. Die anderen starren, so wie ich. Es bleibt einem ja auch fast
nichts anderes übrig in Anbetracht der abstrusen Unwahrscheinlichkeit des
Ereignisses und des irrsinnigen Legendenstatus des Sängers. Das hatten wir alle
nie geprobt.
Der erste, der den Mund aufmacht, ist Stefan, dessen
Realität mit unserer im Moment wahrscheinlich wenig gemein hat: „You’d like a
beer, sir?“ Doch Dylan hat sich längst etwas anderes ausgeguckt. Er zeigt auf
den Chaostisch, genauer: auf eine Flasche mit einer grünen Flüssigkeit.
Waldmeister-Likör. Seinen Hang zu grünen Getränken kann man oft auf seinen
Konzerten beobachten – immer, wenn er aus durchsichtigen Bechern trinkt. Aus seiner
Richtung krächzt es irgendwas mit „taste this?“ und eine der Schweizerinnen,
ich glaube Anni, schüttet geistesgegenwärtig einen praktisch blitzsauberen
Bierbecher vom letztjährigen Haldern (Wo kommt der denn jetzt her?) voll mit dem
Zeug. Der Sänger lässt sich nieder.
Wahrscheinlich aus Langeweile über unsere Fassungslosigkeit
nimmt er das Festival-Magazin in die Hand und blättert darin herum. Vielleicht
hat kurz den Kopf geneigt, komisch geschnaubt oder mit dem Fuß gescharrt – wie
auf ein für uns verborgenes Signal jedenfalls steht plötzlich ein Teil seiner
Entourage neben ihm. Und fängt an, das Editorial des Magazins zu übersetzen.
Mir ist das unfassbar peinlich. So kreuzreaktionär und nicht zu Ende gedacht
war der einleitende Text darin noch nie. Wenn er etwas über die Philosophie und
den Spirit des Haldern-Festivals sagt, dann nur über den kleinen, eher
unsympathischen Teil. Der Veranstalter wendet sich darin mit schwülstigen Worten
gegen den Nahverkehr. Gegen die günstige Möglichkeit, ein Dorf wie Haldern
schnell zu verlassen. Weil das die ländliche Gemeinschaft zerstört, das
kulturelle Leben im Keim erstickt. Irgendwie so. Ich glaube, Dylan hat unsere
Fremdscham gleich bemerkt. „Ich glaube, ich weiß, was er meint“, sagt er. „Aber
was wäre ich ohne die Züge, die mich aus der Heimat wegbrachten?“
„What would I be?“ Die Frage hallt lange nach. Alle sitzen
jetzt da und starren in der Gegend umher. Dylan wirkt jedem von uns so nah wie
ein Mensch dem anderen nur sein kann. Wow, diese Falten! Diese Stimme! Doch gleichzeitig wirkt er abwesend wie auf einem
anderen Planeten. Sein Blick ist mit offenen Augen verschlossen. Ich fange langsam an, die Situation zu begreifen. Als Chance –
oder eher als Möglichkeit, Fragen zu stellen: Warum tourst du so viel? Warum
spielst du auf der Bühne nur noch so selten Gitarre? Das zum Beispiel würde ich
vielleicht gerne wissen. Aber erst nachdem ich noch ein wenig seine Nähe
genossen habe. Ich lehne mich zurück, atme tief durch, schließe die Augen. Zwei
weitere Fragen drängeln sich nach vorn: Wie ist das mit der Liebe? Wie erträgt
man den Kummer?
Als ich die Augen öffne, ist Dylan weg. Ein Traum? Was wäre
das denn für eine witzlose Pointe?
Nein. Linda erzählt mir später, dass er noch mit ihr ins Zelt ist. „Das war strange“, sagt sie. „Als ob er was geahnt hätte, ist er mir einfach hinterher. Setzte sich auf einen Campingstuhl, schlug die Beine übereinander und blickte mich an. Oder vielmehr: durch mich durch. Er fragte: Was ist los? Einfach nur: What’s the matter? Und ich fing natürlich gleich an zu heulen und erzählte ihm die Geschichte. Dass Patrick mir gestern am Feuer einen Heiratsantrag gemacht hat. Wir sind jetzt verlobt, sagte ich und zeigte ihm meinen Ring. Doch da wirkte er schon wieder meilenweit weg, schaute in der Gegend rum. Er wackelte mit dem Kopf wie so ein Wackeldackel. Und war trotzdem bei mir, das konnte ich spüren. Ich wusste, dass er weiß, dass mich die Verlobung in eine Krise gestürzt hat, dass ich an der Beziehung zweifelte wie nie zuvor. Was absurd ist, weil ich immer dachte, dass ich mir nichts sehnlicher wünsche, als die Sicherheit. Als dass dieser Mann, der doch praktisch von Natur aus darauf gepolt ist, rumzubaggern, seine Attraktivität auszutesten, und der das auch mehr als einmal getan hat, sich für mich entscheidet. Für immer – im Prinzip. Das brauchte ich Dylan nicht erst zu erklären. ‚You know what’, sagte er. ‚Es gibt keine Sicherheit. Es gibt Glück und es gibt Unglück. Es gibt gute Bands auf diesem Festival und es gibt Scheiß-Bands. Das weiß ich. Dass es Liebe gibt, glaube ich nur. Weil es den Kummer gibt.’ Ich glaube, er hat ‚that fucking grief’ gesagt. ‚Aber es führt kein Weg an ihm vorbei. Feel it. And I promise you: There will be happy days. Till the end.’“
Nein. Linda erzählt mir später, dass er noch mit ihr ins Zelt ist. „Das war strange“, sagt sie. „Als ob er was geahnt hätte, ist er mir einfach hinterher. Setzte sich auf einen Campingstuhl, schlug die Beine übereinander und blickte mich an. Oder vielmehr: durch mich durch. Er fragte: Was ist los? Einfach nur: What’s the matter? Und ich fing natürlich gleich an zu heulen und erzählte ihm die Geschichte. Dass Patrick mir gestern am Feuer einen Heiratsantrag gemacht hat. Wir sind jetzt verlobt, sagte ich und zeigte ihm meinen Ring. Doch da wirkte er schon wieder meilenweit weg, schaute in der Gegend rum. Er wackelte mit dem Kopf wie so ein Wackeldackel. Und war trotzdem bei mir, das konnte ich spüren. Ich wusste, dass er weiß, dass mich die Verlobung in eine Krise gestürzt hat, dass ich an der Beziehung zweifelte wie nie zuvor. Was absurd ist, weil ich immer dachte, dass ich mir nichts sehnlicher wünsche, als die Sicherheit. Als dass dieser Mann, der doch praktisch von Natur aus darauf gepolt ist, rumzubaggern, seine Attraktivität auszutesten, und der das auch mehr als einmal getan hat, sich für mich entscheidet. Für immer – im Prinzip. Das brauchte ich Dylan nicht erst zu erklären. ‚You know what’, sagte er. ‚Es gibt keine Sicherheit. Es gibt Glück und es gibt Unglück. Es gibt gute Bands auf diesem Festival und es gibt Scheiß-Bands. Das weiß ich. Dass es Liebe gibt, glaube ich nur. Weil es den Kummer gibt.’ Ich glaube, er hat ‚that fucking grief’ gesagt. ‚Aber es führt kein Weg an ihm vorbei. Feel it. And I promise you: There will be happy days. Till the end.’“
Wunderschön. Das solltest du auf der Hochzeit vorlesen.
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