Samstag, 31. Dezember 2011

2011

Wenn ein Jahr zu Ende geht, hat man es gerne rund. Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass ein Großteil der aufgeklärten Menschheit den Weltuntergang im nächsten Dezember für wahrscheinlich hält. Wir suchen einen Nenner, auf den wir das ganze Erinnerungsgerümpel aus guten wie aus schlechten Zeiten bringen können. Waren es in 2011 mehr gute als schlechte Zeiten? Frage ich mich selbst. Ich glaube: ja. Und bin dankbar. Vielleicht werde ich deshalb heute mal wieder beten. Das mache ich nämlich auch immer seltener. Beten ist ein bisschen wie meditieren, nur mit mehr Nachdenken, Reflektieren, ehrlich zu mir selber sein (was gar nicht so einfach ist, weil Selbst-Belügen leicht Gewohnheit wird). Manchmal tue ich unwillkürlich etwas ähnliches wie beten, morgens, während des Aufwachens oder direkt danach.

Heute, am 31. Dezember, maß ich dem besondere Bedeutung zu: Das Jahr wird schon bald ein für alle mal zu Ende sein und jeder heutige Gedanke ist ein Resümee. Und was kam mir in den Sinn? Tino Hanekamps "Sowas von da". Ein Roman über die eine, letzte, große Party vor Club-Abriss. Der Ich-Erzähler trägt stets Marc Aurels "Selbstbetrachtungen" mit sich und zitiert bisweilen daraus. Ich glaube, ich habe von beiden viel gelernt: Vom Ich-Erzähler und von Marc Aurel. Beide halten ein Ideal hoch: Wandlung, Veränderung anzunehmen. Der römische Kaiser drückte das vor fast zweitausend Jahren so aus:

"Alles entsteht durch Verwandlung und die Natur liebt nichts so sehr, als das Vorhandene umzumodeln und Neues von ähnlicher Art zu erzeugen. Jedes Einzelwesen ist gewissermaßen der Same eines zukünftigen, und es wäre eine große Beschränktheit, nur das als ein Samenkorn anzusehen, was in die Erde oder in den Mutterschoß geworfen wird."

Da mein Exemplar von "Sowas von da" momentan als Dauerleihgabe im Zimmer meines kleinen Bruders verschimmelt, kann ich nur ungefähr wiedergeben, was der Erzähler aus Passagen wie diesen lernt: Nicht festzuhalten, offenen Herzens sich den Metamorphosen des Lebens hingeben, das Geld aus der Kasse nehmen und irgendwo neu anfangen. Letzters habe ich in 2011 wohl nicht getan. Aber ich war zwischenzeitlich bereit dazu und vielleicht generell bereiter als früher. Bereiter. Das Wort gibt es doch garantiert nicht.

In meinem stillen Gebet fällt mir noch etwas ein: Gerade gestern noch habe ich "Sowas von da" einem Freund empfohlen. Als heilende Lektüre für seine angeschlagene Freundin (2011 übrigens auch: das Jahr der Depressionen). Der Buchhändler erklärte uns, dass er bis vor einer Stunde noch zwei Exemplare des Romans im Bestand gehabt hätte, die dann jedoch plötzlich weggekauft worden seien. Es muss also in der Luft liegen: Die Menschheit braucht dieses Buch zum Jahresende. "Wer hat es gekauft", fragt ich ihn, "Leute in unserem Alter?"
- "Naja, ich würde sagen, so Mitte Ende zwanzig"
- "Mitte Ende zwanzig", denke ich, "also ganz schön unverschämt, dass er nicht mit Ja geantwortet hat."

Aber vielleicht muss ich mich mit dieser Alters-Sache auch mal abfinden und endlich einen vollends abgerundeten und erwachsenen Charakter entwickeln. Mich beruhig, dass auch Marc Aurel das scheinbar nie geschafft hat. Tadelnd spricht er zu sich selbst:

"Noch immer bist du nicht ohne Falsch, nicht ohne Leidenschaft, nicht frei von dem Vorurteil, dass Äußeres dem Menschen schaden könne, nicht sanftmütig gegen jedermann und noch immer nicht überzeugt, dass Gerechtigkeit die einzig wahre Klugheit ist."

Amen.

Sonntag, 14. August 2011

Haldern 2011: Kleine Kompromisse


Umso größer die Gruppe, mit der man verreist, desto mehr Zeit verbringt man mit Warten. Deshalb sollte sie eigentlich möglichst klein sein, die Haldern-Peer-Group 2011. Ich hatte much stuff to think about going round in my head und wollte keine Kompromisse eingehen. Bands gucken und nachdenken. Zwischendurch mal ein Mineralwasser und zwei Tic Tac, vielleicht irgendwo ein Grillwürstchen abstauben als Exzess. Wir waren vier: Tom, mein melancholischer Jugendfreund mit Hang zum Einsiedlertum. Thomas mit den treuen Hundeaugen und Hang zur Melancholie. Und Agathe, das Goldstück, früher jede Party mitgenommen, heute ruhiger und irgendwie auch – melancholischer. Doch dann kam ja doch noch das Pärchen aus dem Pott dazu, früher dem leichten Leben zugewandt, heute ein Kind erwartend. Da liegt die Frau morgens schon mal mit Sodbrennen im Auto, weil der nervöse Embryo die ganze Magensäure aufscheucht, während sich der Mann draußen am Frühstücksbier festhält. Mehr kann er nicht tun. Ihr den Schmerz ja nicht wegnehmen. Und Gesellschaft, die kann sie gerade einfach nicht haben. Ich kann es ihr nachfühlen.

Dann die beiden „Schwuppen“, wie Sunny zu sagen pflegt, oder: die beiden „schwulen Mobys“: herzensgute, höfliche und liebenswerte Menschen, zelten auch bei uns. Zum ersten Mal auf dem Haldern, wissen sie noch nicht genau, wie das geht – Festival. Die Beiden sind immer in Aufbruchstimmung, Entdeckerlaune. Typischer Satz: „Wir gehen mal das Dorf erkunden!“ Das Dorf Haldern, das wir in mittlerweile acht bis neun Jahren Festivaltradition nicht einmal zu Gesicht bekamen. Immerhin haben die beiden auf die Art das Konzert des Norwegers Moddi in der Dorfkirche erleben dürfen: Mit Akkorden, Klavier, Cello und ein bisschen Percussion. Total schöne Songs. Melancholisch. Passte super in den Kirchenraum! Kann man sich vielleicht mal ein Album anhören.

Und gleich nebenan campiert dann ja doch auch noch die alt bekannte Oasis-Truppe. Ihr legendäres Internetforum, auf dem harte Diskussionen über die Zusammenstellung von Japan-Sinlges der Band geführt wurden und viele internationale Freundschaften geknüpft, löst sich zwar langsam auf. Typischer Satz: „In Zeiten von Facebook braucht niemand mehr ein Forum.“ Immer mit diesem melancholisch geäußerten Zusatz: „Leider.“ Aber immerhin ist die Truppe wieder am Start. Mit einer Palette Amstel pro Person, gekauft beim Holland-Trip, an den der Festivalbesuch nahtlos anschließt. Mit Freunden aus Österreich, die die Gitarre mitgebracht haben und um Mittag rum schon zum fünften Mal „Slide Away“ spielen. „Ein schöner Song“, erklärt ein Oasis-Forums-Urgestein. Gibt aber zu bedenken: „Fünf Mal am Tag brauch ich den nicht mehr.“ Glücklichweise kommt ein dicker, betrunkener Mann des Weges, bekleidet nur mit einer tief hängenden Unterhose. „Gib mal her das Ding“, sagt er, bestimmt auf die Gitarre zeigend. Widerspruchslos wird ihm das Instrument übergeben und er spielt einen deutschsprachigen Song, den keiner kennt (selbst geschrieben?).

Ich wende mich ab. Eigentlich wollte ich mich doch um meine eigenen, drängenden Probleme kümmern. Doch dann fällt mir dieser Gedanke wieder ein, der mir einmal beim Lesen eines kurzen Textes von Wolfgang Hildesheimer kam: Dass man immer ein gewisses Problemlevel braucht, um – nun ja – glücklich zu sein. Oder zumindest, das Leben auf einem erträglichen Maß fahren zu können. Ja, ich habe ein Problem, aber es spielt sich nicht dauernd in den Vordergrund. Es schwingt immer mit wie Grundakkord auf dem Harmonium in der indischen Musik. Es zeichnet einen wehmütigen Schmerz in mein Gesicht, den die Peer Group gern als typische Max-Melancholie missdeutet. Doch wie gut lässt er sich hier übertönen: Mit dem leichten Nachmittags-Kater des Ankunftstages, ausgelöst durch Sekt mit Aperol, Mildem Multivitaminsaft mit Grasovka, Fiege Gründer Hell und Gegrilltem. Mit der feucht-warmen Luft, die über die frisch gemähten Wiesen zieht. Mit dem Geklimper der Zeltstangen beim Aufbau, dem schweren Atem der betagten VW-Busse, den plärrenden Ghettoblastern oder MP3-Player-Stationen, dem Geruch von längst vergessenen, halb geleerten Ravioli-Dosen.

Und dann zerbricht auch noch meine Brille: Ich bin endgültig umfangen, umgarnt von dir, Haldern. Wandere durch die schemenhafte Welt, den Nieselregen, ekle mich vor den Dixieklos und warte, warte auf die anderen. Und bin glücklich, sort of.

Es hilft ja nichts, noch mal die Bands zu boykottieren. Vergangenes Jahr hat das zu einem Overload an Campingplatz-Atmosphäre geführt. Klar ärgern wir uns am ersten Festivaltag eine Runde über das fucking Spiegelzelt. Ich schreibe es immer gerne noch einmal auf: Nur etwa zehn Prozent der Festivalbesucher passen dort hinein, am ersten Tag stellt es jedoch die einzige Bühne dar. So bilden sich absurd lange Schlangen aus verzweifelten Menschen, die aus purer Not auf die aufgestellte Leinwand starren, auf die die Konzerte von drinnen übertragen werden: Bildqualität top, Sound flop. Die Musik ist entweder zu leise, oder falsch ausgesteuert oder knarzt und knackt und fällt aus. Als ob der berühmte Festival-Organisator durch die Reihen laufen würde und jedem Besucher ins Gesicht spucken: „Herzlich willkommen!“

Als alle schon schlafen überrede ich Tom, noch einmal aufzustehen. Wir wollen uns das Brandt Brauer Frick Ensemble anschauen. Ein Freund aus der Heimat hat es empfohlen: „Super Musiker! Super Musiker!“ Brandt Brauer Frick machen Techno mit Instrumenten. Das ist zwar nicht neu. Aber was ist heute noch neu? Wenigstens ist keine Schlange mehr vorm Spiegelzelt. Die schlafen ja alle schon. Oder dancen vor einer kleinen Bühne im vorgelagerten Biergarten. Oder versuchen, zu dancen, sich zu verhalten wie ein Clubpublikum. Merkt man aber, dass wir hier nicht zum Beispiel auf dem Melt sind. Die von Dorfjugend durchmischten Besucher sind unsicher, wie man sich bei der House-Party von Coma zu verhalten hat: Einige heben die Hände und jubeln, einige hüpfen auf und ab… ganz okay soweit. Einige spielen aber auch Luftgitarre oder bangen. Viele stehen mit einem Bier am Rand und werden über beide Ohren rot, weil sie vor Schreck über den Break ihre Zigarette haben fallen lassen. Beim Brandt Brauer Frick Ensemble kann man getrost einfach bewegungslos zuhören, wie ganz normal beim Singer/Songerwriter-Konzert. Die Herren spielen minimalen und slowen Techno, immer wie auf einen total krassen Höhepunkt zu, der aber nie kommt. Stattdessen ist der Song zu Ende. Das ganze Konzert auf die Art quasi eine fortwährende Enttäuschung. Die über den Tellerrand schauende Indie-Crowd klatscht trotzdem höflich. Als es dann auch noch ein Feedback gibt, ist jedoch echt mal genug. Massenflucht, man verdrückt sich.

Tschüss Techno, hallo Indie-Pop. Klar: Wild Beast mögen sie hier. Brit Pop mit leicht darkem Ambient-Wave-Einschlag, tolle Stimme über sphärischem Gitarrenklängen und feinen Elektro-Beats. Zum melancholisch auf den Boden starren und wankelmütig hin und her bewegen. Klar: Gisbert zu Knyphausen mögen sie hier auch. Spielt ein ansprechendes Kurzprogramm, der melancholische junge Mann vom badischen Weingut. Textzeilen wie „Diese Tage sind so fern von allem: Hitze und Beton. Die große Stadt, sie liegt da wie ein verwundeter Vogel. So auch ich, so auch ich. Ich denke und denke. Wie immer viel zu viel“, treffen direkt ins Herz. Gemeinsam mit allen weine ein bisschen nach innen. Und bereite mich auf den heimlichen Höhepunkt vor: Den Auftritt von Wir sind Helden.

Wir sind Helden sind ja so eine Band, die ich mag.
„Ach quatsch, Max, die magst du nicht“, klärt mich Marina auf.
„Wieso denn nicht?“
„Na, weil die einfach nicht gut sind. Irgendwie – zu seicht. So: langweilig. ‚Denkmal’… was für ein fürchterlicher Song!“
Wo ich hinkommen, dasselbe Lied: Wir sind Helden sind abzulehnen. Ich ernte verachtende Blicke, wenn ich nur den Bandnamen ausspreche. Die Leuten scheinen irgendwie beleidigt zu sein. Weil die Gruppe diesen Mega-Erfolg hatte? Weil Everybodys Darlings Zugehörigen der Haldern-Indie-Minorität einfach nicht aus dem Herzen sprechen KÖNNEN? Weil Judith Holofernes gern dieses halbgare Gesellschafts- und Konsumkritik-Geschwafel von sich gibt? Letztere könnte ich ja noch ansatzweise verstehen. Aber mein Gott: Gisbert hat über treffende Gefühlsbeschreibungen hinaus ja auch nicht viel zu sagen. Und die Wombats bestimmt auch nicht. Das Oasis-Forum jedenfalls will während des Wir-sind-Helden-Auftritts geschlossen am Grill sitzen bleiben und sich gegenseitig die Ohren zuhalten. Weil der Wind ja einen Fetzen von „Denkmal“ herüber wehen könnte. Ob überhaupt jemand kommen wird?

Das Festivalgelände ist voll wie noch nie. „Na also“, sagt Thomas, „da hat die Indie-Gemeinde ihre Helden ja doch lieb.“ Ganz ohne Ironie feiern sie die Band und sehen gut dabei aus. Und man muss das auch mal so ganz unironisch feststellen: Echt gute Musik.  Total eingängig, klar, aber nicht seicht. Schon informiert über die popmusikalischen Entwicklungen der vergangenen 40 Jahre. Übersetzt in einen Sound von heute wie ihn weder Juli hinbekommen haben, noch Silbermond, noch Casper, noch Ich & Ich. Und schon gar nicht (hier den Name von beliebigen deutschsprachigen Radio-Lieblingen einfügen). Als sie „Wenn es passiert“ spielen, bin ich wie paralysiert, hypnotisiert. Hier spricht mir jemand ungewohnt deutlich aus der Seele, mit einer ungeahnte Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit. Mit tollen, drängenden Gitarren, organischer Orgel, fluffigem Bass und einem irrsinig sexy Schlagzeug. Ich blicke mich um, suche die Blicke der anderen Zuschauer: „Hört ihr das?“, fragt mein Blick. „Das bin ich!“ Möchte ich sagen. Möchte ich denken. Hammer-Egozentrisch, klar. Und vielleicht auch gar nicht wahr. Ich will das jetzt, dass diese umstrittenen Helden, die sich vielleicht auflösen oder zumindest zeitweise, mich so tief berühren. Ich nehme mir vor: Den Text noch einmal nachschlagen. Hier ist er:

„Ein Herzschlag nur für mich
Und die, die bei mir sind
Augen auf, schaut euch das an
Wer dafür keine Tränen hat wird morgen blind
Wenn ihr das nicht liebt, was dann
Jeder liebe das so viel er kann

Ein Blitzschlag nur für mich
Und die, die bei mir sind
Wer jetzt zweifelt sieht nicht klar
Ganz egal wie viel davon die Zeit sich nimmt
Wer jetzt blinzelt war nicht da

Vielleicht ist es wirklich nur ein Jahr
Aber ich will niemals fragen wo ich war
Wo war ich als das wahr war?

Ich will da sein
Wenn die Zeit gefriert
Ich will da sein
Wenn sie explodiert
Und wenn sich dabei
Mein Verstand verliert
Ich will da sein
Wenn es passiert

Ein Herz, ein Schlag, ein Blitz
Für die, die einsam sind
Augen auf schaut euch das an
Wollt ihr wirklich zählen wie die Zeit verrinnt
Wenn die Welt auch so was kann

Vielleicht ist es wirklich nur ein Jahr
Aber ich will niemals fragen wo ich war
Wo war ich als das wahr war?

Ich will da sein
Wenn die Zeit gefriert
Ich will da sein
Wenn sie explodiert
Und wenn sich dabei
Mein Verstand verliert
Ich will da sein
Wenn es passiert
Wenn es passiert
Wenn es passiert
Wenn es passiert."

Viele Versatzstücke tragen letztendlich dazu bei. Auch der junge James Blake, wahrscheinlich wirklich ein Genie, der mit seiner unfassbar tollen Stimme diese Feststellung durch die Loop-Geräte schickt: „There’s a limit to your love.“ Oder die betörenden Fleet Foxes, die ihr grandioses Konzert mit dieser zarten Hoffnung beenden: „Some day I'll be like the man on the screen.“ Oder natürlich John Grant, der trotz schlecht aufgelegtem Tim Isfort Orchesters ausgedehnte Schauer über den Rücken schickt: „Bittersweet strawberry marshmallow butterscotch / Polarbear cashew dixieland phosphate chocolate / My tutti frutti special raspberry, leave it to me / Three grace scotch lassie cherry smash lemon free.“ Endlich habe ich verstanden. Hey, wo bleibt ihr? Ich warte! Mal wieder!

 

Dienstag, 26. Juli 2011

Bochum Total 2011: Das Fest der reinen Liebe

Der Legende nach ist Bochum Total ein Musikfestival. Das größte Europas gar. Millionen, so die Überlieferung aus Vor-Duisburg-Zeiten, schoben sich einst durch die Straßen der grünen Ruhrgebietsinsel (Bochum), um Bands zu sehen. Angesagte! Als ich erfuhr, dass die Redaktion mich nicht schreiben lassen wollte, reagierte ich verständlicherweise mit Enttäuschung, Trauer und Wut. Wälzte mich auf dem borstigen Teppichboden, schrie und jammerte und stampfte schließlich sogar mit dem Fuß auf. Es half nichts. Meine Karte für den Pressebereich bekam ich von der Konkurrenz ausgehändigt. Danke nochmal, Konkurrenz. Eine absolut folgerichtige Entscheidung musste gefällt werden: Ich würde die Konzerte meiden und mich auf die wichtigen Dinge konzentrieren. Auf den persönlichen Spaß, der an die Stelle der großen Leere treten sollte, die mich stets aushöhlt. Da gerät der Magen schnell aus dem Takt. Ich kaufte mir also Milden Multivitaminsaft, nicht nur wegen der Alliteration, und Wodka Grasovka. Diese Mischung, etwa Hälfte Hälfte, und das darf man ruhig als Tipp verstehen, ist der sanfteste Weg zur Betrunkenheit, den ich kenne. Mit ihm im Gepäck - natürlich in der Plastikflasche! - sind die Bühnenlichter, der Nebel und die grunzenden Bässe aus der Ferne keine Bedrohung mehr. Und jetzt ist auf einmal Präsens. Ich bleibe sogar kurz bei Rage Against The Machine stehen, die die Pottmob-Bühne rocken. Um mich herum 60- bis 70-Jährige, die verständig mit dem Kopf nicken. Dem Programmheft entnehme ich jedoch, dass Pottmob ein Internetportal für junge Menschen von 14-22 ist. Hier habe ich nichts mehr zu suchen, verdrücke mich ins nahe Edelrestaurant Livingroom. Auch dort werde ich mit dem Alkohol in der Plastikflasche problemlos eingelassen.

Livingroom egal, interessanter: Schnick-Schnack-Schnuck-WM. Wie jeden Bochum-Total-Samstag findet sie vor der Kneipen-Legende (allein hier vergangenes Jahr eine halbe Million Gäste) Intershop statt. Vorher muss die Fee gefunden werden. Die Fee ist der Dreh- und Angelpunkt einer jeden Schnick-Schnack-Schnuck-WM: Sie ist adorable, steht vorzugsweise auf einem Mülleimer und verliest die Wettkampfs-Paarungen. Der erfahrene Veranstalter ist erst wenig begeistert, als sich ein junger Wildfang bewirbt. "Eventuell ist sie nicht asozial genug", gibt er mit melancholischem Blick zu Bedenken, "eine Fee muss immer auch ein wenig asozial sein..." Am Samstagabend jedoch ruft die Neufee, die die Mülltonne gegen einen Barhocker getauscht hat, vornehmen Respekt bei den Teilnehmern hervor. Sie hat sich rosa Blumen ins ebenhölzerne Haar gesteckt, trägt ein blütenweißes Kleid, Cowboy-Stiefel aus Büffelleder und einen blutroten Campari-O im Kaffeebecher. "Fee, Fee!", ruft die Schar zwar, wenn sie die Namen aus der Losbox greift. Auf "Ausziehen, Ausziehen"-Rufe wird jedoch dezent verzichtet. Besonders spannend das Halbfinale: Weibliche Nachwuchshoffnung gegen Vorjahresfinalisten. Dreimal zeigen beide Papier. Unfassbar! Eine Auszeit wird beantragt. Der pädagogisch geschulte Schiedsrichter nimmt die Gegner zur Seite, spricht eindringliche Worte: "Ihr müsst jetzt auch mal was anderes nehmen!" Das Publikum kennt die Lösung: "Scheeere", ruft es der Dame zu, "damit schlägst du das Papier!" Die Gedankengänge der Halbfinalisten sind praktisch greifbar: "Wird sie auf das Publikum hören?" "Wird er es wieder mit dem Papier versuchen. Oder den Stein? Oder gar den fürchterbaren Brunnen auffahren?" Sie entscheidet sich für Schere. Er wieder für Papier. Irre! 0:1! Das Publikum ist komplett aus dem Häuschen, wildfremde Menschen liegen sich weinend in den Armen. In der Folge verliert sie binnen Sekunden 3:1. Ich selbst verfolge das Geschehen nicht, draußen sind es unter 20 Grad und es fiselt. Sitze im Intershop und hänge trübsinnigen Gedanken nach. Frei nach Blumfeld: "Wo komm' all die graaaauen Wolken her?"

Dinge, die ich bei Bochum Total verpasst habe:
- Das spannende Halbfinale der Schnick-Schnack-Schnuck-WM
- Bands
- Die legendären Kopfhörerpartys im Zacher und ihre liebenswerten Helferchen
- Zwei Steaks in eins Brötchen
- Alte Schulfreunde treffen
- Einen Hut kaufen
- Eine alte Vorliebe einzutauschen gegen etwas Neues
- Den Rapper Casper falsch schreiben

Nicht verpasst habe ich die formidable Samstagsparty in der liebenswerten Hafen-, Fußball, Rock-, Poetry-Slam-, Greenpeace- und Piratenkneipe Freibeuter. Dass dieser Abend zur Legende wird, erzählt jeder kondensierte Schweißtropfen, der von der Decke tropft. Ein lieber Freund spricht mich vorsichtig an:
"Komm, lass uns abhauen - in' Shop!"
"Nee, ist doch super hier!"
"Ach komm, wir gehen noch in den Intershop!"
"Nee, guck doch mal: Die tanzen da jetzt alle!"
"Ja, aber im Intershop geht's jetzt richtig ab!"
"Lass mal hier bleiben!"
"Ich geh in' Intershop!"
"Lieber hierbleiben."
"Intershop."
"Hier."

Was an diesem Abend im Intershop wirklich geschah, dazu am besten frei erfundene Zitate des Personals: "Samstagnacht, Bochum Total 2011: ein kosmisches Ausnahmeereignis! Das Kellnerteam ja sowieso, aber auch die Gäste: Bezaubernd, liebenswert. So eine gute Stimmung! Alle höflich, gepflegt ausgerastet, eine Atmosphäre der reinen Liebe. Reine Liebe, das mein ich echt so! Und die Musik des DJs - besser geht das einfach nicht. Geht. Das. Einfach. Nicht." Und ich war mit dabei. Ich habe die besten meiner Generation - und der nachfolgendenden - seelig lächeln, bezaubernd tanzen und herzzerreißend mitgrölen sehen. Ich habe Kellner kopfüber von der Theke springen hören. Wie um aufzuwachen aus einem Wachtraum. Bochum, ich komm aus dir, Bochum ich häng an dir. HALLO?!

Samstag, 4. Juni 2011

Sommer in Oberdahlhausen

In meiner oberbergischen Heimat hätte es bei diesem Wetter nur zwei Alternativen gegeben. Entweder ins Freibad, wo die Assis um den fetten Behnke hinterm Eingang lauern: "Na, sieh mal an, da will wohl einer auf die Fresse!" Oder mit dem Rad den steilen Berg rauf und wieder runter zur Talsperre. Da am steinigen Hang ein Handtuch ausbreiten, Handballer Markus erzählen lassen, was er wieder krasses geklaut hat (mindestens einen Fahrrad-Lenker oder Motorrad-Helm - und die Verkäufer wieder nix gecheckt). Oder im Schlauchboot übers Wasser mit Henning aus dem christlichen Elternhaus (zum Abendbrot nach Hause, sonst Ärger mit Depri-Mutti). Hier im Ruhrgebiet sind mir die Freunde abhanden gekommen, mit denen es zum Wasser ging. Ich streife also durch die Straßen, über den kochenden Asphalt. Durchs In-Viertel Ehrenfeld. Vor der Butterbrot-Stube heult ein Kind und kloppt immer wieder seine Flasche auf den klapprigen Tisch. Ein unerträglicher Lärm. Drinnen dafür Ruhe und lecker Butterbrot mit Tête de moine. In der chrom Galerie machen sie Sale. Ich liebäugle mit einer Winterjacke und alle bestärken mich. Auch mein Vater am Telefon: "Antizyklisch denken ist beim Klamottenkauf stets klug." Und Tobas: "Du freust dich dann fünf Monate lang wie verrückt darauf, dass es wieder kalt wird." Alles klar, das Ding ist gekauft. Die Verkäuferin: Willste lieber ne Tüte, damit keiner Sprüche klopft - ne Winterjacke bei den Temperaturen?. Ne, hab ja mein Auto direkt vor der Goldkante geparkt. In der Goldkante eine Theater-Performance. Acht Stunden lang der totale Hirnriss. Kann sein, dass ich das jetzt nur so empfinde und gerade auch ein bisschen ignorant bin, weil bei dieser Hitze ja nur geringe Teile der Hirnfunktionen richtig arbeiten. Aber die bewegen sich da so gespreizt und maniriert durch den Laden in wallenden Tüchern und mit weiß geschminkten Gliedmaßen. Sieht aus wie eine Tanztheaterparodie von Harald Schmidt und Herbert Feuerstein. (Das waren noch Zeiten!) Draußen bereitet jemand Salat zu. Rohkost! EHEC! Ich rücke ein Stück zur Seite. Keine Ahnung, was das soll. Passt aber ins Bild des diesjährigen MegaFon-Festivals der Bochumer Theaterwissenschaftler. Bochum ist wohl doch weit von Gießen, zumindest in diesem Jahrgang. In der Rotunde haben die Studenten "Installationen" eröffnet: Eine ist mit der analogen Spiegelreflex los und hat ohne Sinn und Verstand in den nächtlichen Ruhrgebietshimmel geknipst. "Eindrücke von Weite im urbanen Raum". Quatsch-Konzept, schlecht umgesetzt. Daneben ein Raum vollgestellt mit Zeug, in der Mitte ein Kassettenrekorder (Analoge Spiegelreflex, Kassettenrekorder - Sehnsucht nach dem vordigitalen Zeitalter?), der angeblich Stimmen von Menschen abspielen soll, die noch nie im Ruhrgebiet waren, aber darüber sprechen. Was man hört, ist bloß ein unangenehmes Rauschen und Zischen. Da lob ich mir doch den USB-Stick! Gute Marketing-Idee, fällt mir ein, für die städtische Müllabfuhr Bochumer Umweltservice (USB): USB-Sticks für die Sacksammler (So nennen sie intern die Leute, die ihr Plastik nicht in die Gelbe Tonne, sondern in den Gelben Sack stecken). Ein weiterer MegaFon-Unfug findet in einem Fitnessstudio statt: Zwei Studentinnen bewegen sich zum Thema Zeit. Irgendwie ungelenk rennen sie und tanzen, hecheln, schnaufen. Wecker klingeln. Alle Assoziationen, die aufscheinen, sind sofort wieder vergessen, weil das irgendwie so egal ist. Ich sehne mich nach dem Sommer in Oberdahlhausen. Da tanzen keine Studentinnen, da brüllt auch nicht der Arbeitslose im Hinterhof die Hunde an. Da zwitschert höchstens mal ein Vogel. Eigentlich bin ich ganz froh, dass da jetzt mein Auto gleich vor der Tür steht, obwohl ich ganz in der Nähe wohne. Ständig muss ich mich rechtfertigen: Mein Fahrrad ist kaputt, Mann! Aber das Auto - hach. Ist doch schön: Da dreht man die Fenster runter, surft mit dem Arm durch den erfrischenden Luftzug und hört laut Musik. Zum Beispiel Tom Waits "Ol' 55". Entschleunigung. Und es ist ja auch so einfach, hier in Deutschland zu fahren. Auf der rechten Seite der Straße. Nicht wie zur Pressekonferenz mit Ringo Starr in Cranleigh, Surrey. Dort das Steuer rechts und links unterwegs und mehrfach fast einen Unfall gebaut. Aber das ist eine andere Geschichte.

Dienstag, 3. Mai 2011

Traumtagebuch: Goldkante

Ich habe geträumt, dass die Goldkante eröffnet. Die Bar liegt mitten in einer Art Altstadt. Frankfurt vielleicht, Berlin, möglicherweise Wien. Eine Mischung aus glücklichen Orten der näheren und ferneren Vergangenheit. Überall Schaufenster, zu allen Seiten freie Sicht auf pittoreske enge Gassen. Anfangs spendet die Abendsonne noch Wärme. Später, als es dunkel ist, geben die Pflastersteine sie ab. Drinnen ist es voll, aber nicht brechend voll. Die Menschen tragen eine Mischung aus Handwerkerkluft, Öko-Gewändern und hipper Ausgeh-Kleidung. Nerd-Stylisten an der Bar. Die Hobbyhandwerker führen noch undefinierbare letzte Arbeiten vor: Es wird gestaubt, gefeilt, geräumt, vielleicht die Lüftung justiert? Die Ökos stehen herum und trinken, wahrscheinlich alkoholfreies Bio-Bier (lecker!). Die Hipster lehnen an der Bar, die die komplette linke Seite des ersten Raums einnimmt. Zwei Schwule hinter der Theke kriegen das Bedienen nicht auf die Reihe. Dass die halbe Partygesellschaft auch hinterm Tresen steht, macht ihnen die Sache nicht einfacher. Aus dem hinteren Raum schallt Musik. Wahrscheinlich legt ein DJ auf. Wer? Ich wache auf. Scheiße. So viele Fragen. Versuche, krampfhaft, wieder einzuschlafen, zurückzukehren. Doch wenn es mir kurz gelingt, ist der Laden leer. Wie das Bochumer Museum zu Öffnungszeiten.

Montag, 14. Februar 2011

Sinnlos (Fragment)

Ein Dilemma, in dem man als Einwohner des Ruhrgebiets immer steckt: Einerseits findet man es hier auf eine merkwürdige, fast perverse Art so wundervoll, dass man niemals weg will. Andererseits geben ein Hamburg-, Berlin- oder sogar Köln-Besuch stets zu denken. Da ist es nämlich noch viel besser. In Hamburg angekommen, ist mir das sofort wieder klar. Die Luft. Sie riecht so selbstverständlich nach Gekonnt und fast gar nicht nach Gewollt. Höchstens an der Elbphilharmoniebaustelle. An der Ticket-Ausgabe im Hauptbahnhof lächelt die Ticket-Verkäuferin ein typisches Hamburger Lächeln: Freundlich und vorsichtig. "Du bist also der Max aus Bochum", sagt sie und drückt mir einen Umschlag in die Hand. "Stefans Bochum Freund" steht drauf. Fritzi vom Ticket-Shop kennt nämlich meinen Freund Stefan, den Ex-Bochumer Punk, und dealt uns Karten für Christiane Rösinger.
"Ich bräuchte noch drei weitere Karten, ist das drin?", frage ich.
"Genau drei sind noch da", sagt Fritzi und wir freuen uns eine Runde. Auch sie kommt mit.
Den Begriff Neuralgisches Konzert erwähne ich zum ersten Mal gegenüber Bertram. Ich finde das passend, weil ich das Gefühl habe, alle Fäden, die sich vor dem Hamburg-Besuch fast von selbst erstaunlich weitläufig gesponnen haben und auch vor Ort immer noch spinnen, laufen dort zusammen. Dass ich den Begriff "neuralgisch" eigentlich falsch benutzt habe, fällt mir erst jetzt auf, wo ich es bei Wikipedia nachklicke. "Neuralgischer Punkt" bezeichnet nämlich nicht einen Nervenknoten oder ein Nervenzentrum, sondern "ein Umfeld, eine Situation oder einen Ort, welcher bestimmte Schwierigkeiten oder Risiken birgt". Im Prinzip habe ich damit aber trotzdem ins Schwarze getroffen. Denn wenn viele verschiedene Menschen aufeinandertreffen, kann das immer Risiken bergen. Husni Mubarak wird das sicher bestätigen.
Alles, was wir vorher erleben, erscheint mir so wie eine Ouvertüre zum Neuralgischen Konzert.
"Das Neuralgische Konzert."
"Ich kann's nicht mehr hören", sagt Bertram. "Wenn du das dauernd so betonst, legst du viel zu viele Erwartungen da rein und die kann kein Abend der Welt erfüllen."
Wir laufen durch die großartige Stadt und frieren uns den Arsch ab. Endlich im Thalia-Theater angekommen, sitzen wir scheiße. Wie immer, wenn ich dieses legendenumrankte Haus aufsuche. Das letzte Mal saß ich im Rang und schaute praktisch aus der Vogelperspektive auf die Frisuren der Schauspieler. Heute in der letzten Reihe des Parketts, wo die tiefhängende Tribüne den Blick auf die Bühne halb verstellt. Der "Hamlet" ist glücklicherweise langweilig und so macht es nichts. Den meisten Applaus heimst mit Abstand der Bühnenmusiker Jens Thomas ein. Deshalb ist er also aus Bochum verschwunden: Weil er es in der großen Stadt geschafft hat.
In der Washington Bar, die laut derzeitiger Leuchtanzeige "Hington Bar" heißt, feiern wir das Ende des besten Campus-Magazin der Welt und schleppen die Fernseh-Praktikantin Beate mit in den Pudel. Sie ist Wienerin, spricht astreines wienerisch und das hören wir einfach gern. Bertram verabschiedet sich zwischendurch, weil er draußen "etwas kaufen" will.
"Wo war Betram denn so lange?", fragt mich Beate, als er wieder auftaucht.
"Er ist draußen etwas kaufen gegangen", erkläre ich ihr.
"Was denn?"
Ich überlege kurz. "Getränke", sage ich dann.
"Ach, sind die draußen billiger?", fragt Beate.
Der nächste Morgen ist die letzte Coda der Ouvertüre für das Neuralgische Konzert. Finde ich.
"Max!", ermahnt mich Bertram streng, geht aber trotzdem mit zum Frühstücksportugiesen gegenüber der Roten Flora. Wie gut er ist, lässt sich, wie so vieles, mit meinem beschränkten Wortschatz leider nicht beschreiben.
"Wenn Sie die Rote Flora tatsächlich eines Tages abreißen, dann ist hier Krieg", sind wir uns einig und gehen auf den Flohmarkt. Der Verkäufer am Bücherstand schafft es tatsächlich, mir Maarten 't Harts Buch "Bach und ich" ohne die dazu gehörige CD mit Hörbeispielen zu verkaufen.
"Sie sind wohl durch die Verkäuferschule gegangen", lobe ich ihn.
Sein Kopf rattert und er stottert: "Durch die Verkäuferschule ... äh ... des Lebens!"
Ich freue mich, dass er auch erste Lektionen in Schlagfertigkeit gelernt hat.
Es wird immer kälter und das Neuralgische Konzert naht. Bertram und ich liegen auf dem Boden seines klar strukturierten Wohnzimmers und starren an die Decke.
"Ob es wohl wirklich so gut wird", frage ich mehr mich selbst als ihn.
"Nein, SO gut kann es gar nicht werden", entgegnet Bertram leicht genervt.
Ich frage mich, was er hat. Immerhin kommen zu dem Konzert: Marie, die Top-Journalistin, die immer auf der Suche ist nach einem abgefahrenen Abenteuer und dafür auch die letzten Spelunken auscheckt. Fritzi, die Ur-Hamburger Ticket-Verkäuferin mit dem unbedingten Willen zur Party. Stefan, der Punk, der gern viel trinkt, sich dann alle drei bis vier Minuten in eine neue Frau verliebt und sie das auch wissen lässt. Betram, der über beide Ohren verliebt ist in Edna. Edna, die geheimnisvolle, unnahbare Schönheit im dunklen Gewand. Ihre namen- und profillose Freundin. Von Weltstadt zu Weltstadt: Beate, die aufgeschlossene Fernsehpraktikantin aus Wien. Und Mubu, ein großer, stämmiger Afrikaner mit faltig-knautschigem Gesicht aus ihrer WG. Er ist abschiebegefährdet, weil keiner ihm abnimmt, dass er erst 17 Jahre alt ist.
Mit dem Fahrstuhl wird man hinaufgefahren in das Konzertlokal. Es heißt Uebel & Gefährlich und liegt im vierten Stock eines furcheinflößenden Bunkers.
"Sicher ein bestimmte Schwierigkeiten oder Risiken bergender Ort", denke ich und freue mich auf die anderen.
Die sind aber noch nicht da. Nach und nach tröpfeln sie herein und schlagen kläglich auf. Fast niemand wechselt ein Wort, alle starren sich nur schüchtern an. Ich hole mir vor lauter Schreck eine Whiskey-Cola und lausche dann mit den anderen still Christiane Rösinger: "Es ist alles so sinnlos. Das hält ja gar kein Mensch mehr aus. Da muss man sich doch einfach hinlegen. Oder man steht erst gar nicht auf."

Montag, 7. Februar 2011

Husni Mubarak nach Bochum?

Auf höchster politischer Ebene wird derzeit diskutiert, ob der umstrittene Staatspräsident Ägyptens ins Bademantel-Exil nach Baden-Baden gehen sollte. Beziehungsweise ob Deutschland sich dies moralisch leisten könne. Ob auch Bochum als Exil des Autokraten in Frage käme, soll hier kurz aufgeworfen werden:
1. Deutschland dürfe "keine Fluchthilfe leisten", findet Jürgen Trittin. Falls Mubarak etwa in einer gemütlichen Suite in der Bochumer JVA unterkommen würde, wäre Fluchthilfe gar nicht notwendig.
2. Mubaraks Vermögen wird auf 40 Milliarden Dollar geschätzt. Da Bochum derzeit mit etwa 1,4 Milliarden in der Kreide steht (allerdings Euro), könnten sowohl die Stadt als auch ihr potentieller Gast den Aufenthalt als Chance sehen. Hier kann Mubarak gestalten und die Stadt mit ihrer offenen und liberalen Atmosphäre heilsam auf den Geist des Despoten wirken.
3. Während eines Besuchs in Baden-Baden zeigte sich bereits 1998, das Mubarak ein ausgesprochener Liebhaber alter deutscher und österreichischer Blasmusik ist. Auch wenn mit dieser heißen Background-Info das Bademantel-Exil in Süddeutschland wieder wahrscheinlicher wird: Geeignete Programme wären sicher auch leicht im neuen Musikzentrum an der Bochumer Marienkirche einzurichten.
4. Wer Blasmusik mag, der mag auch Bier. Und das ist in Bochum bekanntlich besonders gut.
5. Mubarak geht auf die 83 zu. In Bochum wird dem demokratischen Faktor mitten in sein faltiges Angesicht gesehen und reagiert. Warum sollte das nicht auch ehemaligen Staatspräsidenten zugute kommen?
6. Man kann vielleicht nicht behaupten, dass die ägyptische Kultur im Bochumer Stadtgebiet deutliche Spuren hinterlassen hätte. Vor allem in der Peripherie wird das Brauchtum des Nil-Staates jedoch gepflegt.
7. Wie es mit Schminkkunst, Sauberkeit und Hygiene im alten Ägypten wirklich steht, würde sich die Ruhr-Uni von einem alten Ägypter sicher gern noch einmal ausführlich erklären lassen.

Das Mixtape-Problem

In diesen Tagen noch ein Mixtape aufzunehmen, ist wahrlich kein Zuckerschlecken. So viele Fragen zu klären. So viel Technik, wo es doch eigentlich um die Musik gehen sollte. Tatsächlich ein Tape aufzunehmen wäre natürlich völlig aus der Zeit gefallen, nahezu weltfremd. Kassettenrekorder führen schon seit vielen Jahren ein Schattendasein. Sie finden sich noch nicht einmal mehr in Autos, sondern höchstens noch in den Betten von nostalgischen jungen Erwachsenen, die zum Einschlafen gern Die Drei ??? hören oder TKKG. Auch mein Autoradio kann mit Kassetten nicht mehr umgehen. Also nehmen ich Mix-CDs auf. Das lief bisher immer so ab: Wenn ich das Gefühl hatte, mit den Lieblingsliedern aus der jünsten Vergangenheit 80 Minuten füllen zu können, speicherte ich eben diese Lieblingslieder von CDs auf meine Festplatte und brannte sie in einer sinnvollen Ordnung auf einen Silberling. Mittlerweile ist auch das ein typisches Dinosaurierverhalten. Man muss nur mal offen einen Diskman mit sich herumtragen - etwa im Regionalexpress von Bochum nach Düsseldorf -, um zu wissen, was ich meine. Kaum jemand kann derart abfällige Blicke ertragen. Heute kann ein anständiges Autoradio auch USB-Sticks oder angeschlossene MP3-Player abspielen. Der Entscheidung, eine Mix-CD zu brennen, ist das nostalgische Element also praktisch nicht mehr zu nehmen. Es gibt nur zwei halbwegs nachvollziehbare Argumentationen:
1. Das Autoradio kann doch noch nicht USB. Ist bei mir leider nicht der Fall.
2. Man bekennt sich offen zum Medium CD und seinen Eigenschaften. Das tue ich als Anhänger des Albumformats. 80 Minuten sind eine nahezu perfekte Länge für eine Kompilation, ähnlich den 90 Minuten des klassischen Mix-Tapes.
Einen halben Tag dauert es trotzdem, bis ich mich zu der Entscheidung durchringe, eine CD aufzunehmen. Den restlichen halben Tag, sie zusammenzustellen: Mit Erschrecken muss ich feststellen, dass die meisten meiner Lieblingslieder in den unterschiedlichsten Formaten auf meiner Festplatte existieren, das historische Programm, mit dem ich meine Mix-CDs zusammenstelle, jedoch nur MP3 kennt. Es geht also ans Konvertieren. Verschiedenste Programme müssen dazu heruntergeladen werden. Der anspruchsvollste Teil: Die ersten drei Minuten eines Keith-Jarrett-Solokonzerts, das ich nur auf DVD besitze. Ein DVD Audio Ripper ist sehr schwer zu finden und er rippt natürlich das ganze Kapitel in eine Datei. Also ein Schnittprogramm herunterladen, das den fertigen Schnitt als WAV-Datei mit 32Bit und 48000Hz ausspuckt. Wieder konvertieren. Am Ende habe ich etwa 100 Minuten Musik. Also doch lieber einen Ordner auf dem USB-Stick anlegen? Nein, das ist nicht wertig genug. Entscheidungen müssen her. Wirklich zwei Tom-Liwa-Songs? Klar, wie immer. Wirklich schon wieder Distelmeyer auf einen Mix? Auch hierzu ein klares Ja. Aber muss die 10-minütige, rare Pearl-Jam-Single wirklich mit? Eigentlich schon, weil ich sie im Auto so schön laut hören könnte, was in der Wohnung dank irrsinniger Nachbarn unmöglich ist. Und dann habe ich ja auch noch Seu Jorge wiederentdeckt. "Carolina" - war für ein toller Song! Belle & Sebastian muss endlich mal mit, Jim Sullivan fand ich nach der Empfehlung von Jan Wigger auch sehr hörenswert, KORT macht gute Laune, Joanna Newsom ist einfach zu süß, um sie zu löschen, John Grant ist immerhin Klauspeters Album des Jahres und Iron & Wine rocken perfekt aus der Platte raus. Jetzt sag ich schon Platte. Eigentlich müssten von Platte auch noch Titel auf die Mix-CD. Aber wenn ich das versuche, werd ich endgültig bekloppt. Wo ist überhaupt ein Rohling? Ich dachte, ich hätte noch einen. Einen allerletzten. Gleich ist es soweit: Ich ergebe mich. Es gibt kein Mixtape mehr. Auch nicht auf CD. Diese Zeiten sind endültig vorbei.

Donnerstag, 3. Februar 2011

Das Interview

Die können Kunst. Außerdem verkaufen sie eine ganze Pommesschale voll Sushi für 2,50 Euro. Ich bin gerne hier. Mit Heerscharen von Münsteraner Studierenden, die sich die unprätentiös präsentierte Kunst ihrer Kommilitonen anschauen. Und kann mich gar nicht entscheiden, was ich am liebsten mag: Die Hasenportraits im Stile alter Meister, die scheinbar achtlos zwischen Veranstaltungsplakaten hängen? Den Kubus, den man durch zwei Schleusen betritt, um dann mit fremden Menschen im Dunkeln zu stehen? Den formierten Schrotthaufen der irren Klasse des verrückten Professors Buetti? Sofas, Küchenherde, Stühle, Tische, Fernseher, Mikrowellen, Bücher, CDs und - wo noch Platz ist - Bierflaschen von Besuchern stapeln sich da zu einem deckenhohen und raumfüllenden Würfel. Ein megalomanisches und absolut einleuchtendes Kunstwerk. Da ich jedoch vermute, dass es der ein oder andere von euch nicht verstehen wird, werde ich es in einem der folgenden Einträge ausführlich erklären. Am Ende des etwa dreieinhalbstündigen Rundgangs (mit Pause), vorbei an 250 Exponaten der jungen Talente, bleibe ich an einem hängen: Helene Hanke (23) hat gleich zwei Wände vollfotografiert. Das Motiv: Sie selbst, 730 mal, zwei Jahre lang, jeden Morgen direkt nach dem Aufwachen. Klare Kiste: Ich lade Sie zum ersten Interview in der jungen Geschichte des goldenen Westens.

Der goldene Westen: Frau Hanke, haben sie auch geblitzt?
Hanke: Ja, das gehörte zu meinem ästhetischen Konzept dazu. Die Bilder sollten wie typische Schnappschüsse mit einer billigen Kamera aussehen, die man zum Beispiel bei Saturn in Münster für 69 Euro hinterhergeschmissen bekommt und sich aber trotzdem von den Eltern kaufen lassen muss, weil die Studiengebühren so hoch sind. Aber warum fragen Sie?
Der goldene Westen: Weil das doch bestimmt sehr hell ist, so früh am Morgen...
Hanke: Ja, natürlich. Das tut richtig weh in den Augen. Aber es ist eine so schonungslos ehrliche und direkte Art des Selbstportraits. Vor diesem Blitz kann man nichts verbergen. Schlaf in den Augen, Schminkereste, Schweiß, Tränen, dunkle Ringe, Pickel, Wunden. Aber auch echtes Glück fangen diese Fotos ein: Wenn man in Anbetracht dieses brutalen Ritschratschkamerablitzes seelig lächelt, dann ist das tief empfunden und kaum anzuzweifeln.
Der goldene Westen: Sie haben scheinbar keinen Freund?
Hanke: Irgendwie mag ich Ihre Art zu fragen nicht und ich mag sie doch. Sie ist so schonungslos und direkt wie meine Aufnahmen. Aber ich verstehe nicht ganz...
Der goldene Westen: Naja, weil da nur zwei oder dreimal jemand neben ihnen liegt.
Hanke: Mein Freund war sehr skeptisch, als er von dem Projekt erfahren hat. Er sah darin eine gefährliche Mischung aus Egozentrismus und Selbstausbeutung. Als ich ihm dann auch noch von dem Blitz erzählte, hat er sich sofort getrennt. Er ist jetzt mit einer Hörbuchautorin liiert.
Der goldene Westen: Das klingt ja absurd.
Hanke: Ist es auch. Aber das mochte ich. Zwei Jahre lang habe ich die Männer mit meiner Kamera verschreckt, Freunde haben sich von mir abgewendet. Und erst heute, am Eröffnungstag dieser Ausstellung, kann ich meine triumphal richtige Entscheidung voll auskosten: Ich habe 35 Creditpoints bekommen!

Wir fassen also zusammen: Eine schöne Arbeit und eine interessante Persönlichkeit. Die mit großem Abstand beste Arbeit jedoch war ein mit Studierenden bestückter Bierautomat. Er hat wirklich ganz außergewöhnliche, unmöglich zu beschreibende Geräusche von sich gegeben. Und der dazugehörige Bierplan - eine Wucht!


Dienstag, 1. Februar 2011

Unerhört

Schon während des Essens ärgerte ich mich, dass ich niemals würde adäquat aufschreiben können, wie schlecht es wirklich war. Wo anfangen? Bei den Kartoffeln vielleicht. Nein, erstmal die Fakten: Essen gewesen bei Al Minero, dem Tapas-Laden mit der anmaßenden Internetadresse spanier-bochum.de. Als ob das irgendwie eine klare Sache sei: Der Spanier in Bochum ist Al Minero. Von wegen. In fußläufiger Entfernung gibt es das Tapas, Coco Loco und Una Mas. Das Gaudi ist wohl leider dicht. Allen dreien gebührte der Titel eine Weltenlänge mehr. Warum? Weil sie kein Tapas-Buffet des Grauens anbieten. Fangen wir bei den Kartoffeln an: Sie waren zu haben als verschrumpelte Ex-Ofenkartoffeln mit kilometerdicker Salzkruste, teilweise weniger als halbgar in einem Kartoffelsalat, den schon in den 90er Jahren jede Studenten-WG abgelehnt hätte. Und teilweise als Tortilla-Häppchen an Zahnstochern, direkt aus der seit dem Einkauf im Großmarkt nicht unterbrochenen Kühlkette. Kalt waren auch die Hackfleischbrocken in Tomatenpampe, das Hähnchen in einer Art Currysauce (indisch?), die zu einem bräunlichen Matsch zerfallenen, undefinierbaren Meeresfrüchte und - die Tomatensuppe. Mein Vater und ich rätselten kurz, ob wir es hier mit einer Gazpacho zu tun hätten. Dafür war die Suppe dann allerdings doch zu warm. Als Nachtisch standen zwei Tüten-Vlas in kalkblinden, schmucklosen Glasschüsseln bereit. Als die Kellnerin sich nach unserem Wohlbefinden erkundigte, deutete ich meinem Vater ein kurzes Kopfnicken an und er begann: "Naja, wir sind nicht wirklich zufrieden."
"Eigentlich überhaupt nicht zufrieden", spitzte ich zu
"Das ist ja alles kalt", erklärte mein Vater, "und außerdem im Prinzip geschmacksfrei. Ich frage mich außerdem, was ein Kartoffelsalat und gefüllte Eier mit Tapas zu tun haben. Das ist eher so 50er Jahre Deutschland."
"Dafür aber deutlich zu wenig Wirtschaftswunder", ergänzte ich, um die Situation ein wenig aufzulockern.
Die Kellnerin lächelte verlegen und machte merkwürdige Brumm- und Pfeifgeräusche.
"Wissen Sie", erklärte mein Vater höflich, "Ihr Restaurant wurde mir von meinem Bruder aus Lübeck empfohlen, Er hat sich am Tapas-Buffet-Tag hierher verlaufen und das Lokal unter Begeisterungsstürmen und drängend wieder verlassen. Es drängte ihn, alle Welt hierher zu schicken. Für mich lässt das nur einen Rückschluss zu: Die gastronomische Situation in Lübeck muss desolat sein. Und da fällt mir ein: Zu seinem Geburtstag lädt er nach Hamburg in eine Currywurstbude, die angeblich unglaublich deliziöse und höchst innovative Dinge mit der Wurst anstellt. Gott behüte, dass er da ähnlich falsch liegt! Die Rechnung bitte."
Wie freuten wir uns da: Sicher würden wir nun eingeladen und unter devoten Entschuldigungs-Verbeugungen der gesamten Küchencrew aus dem Laden geleitet. Doch alles kam unerhört anders.

Sonntag, 30. Januar 2011

Im Rausch

Ich könnte mich leicht damit abfinden, reich zu sein. In der Wellnesstherme fiel mir einst ein Paar auf: Sie blond, er schwarzhaarig. Beide unglaublich schön und elegant, eine gewisse Noblesse, feine Arroganz und wohldosierte Asozialität ausstrahlend. Selbst im Bademantel. Sie im kleinen Schwarzen und er in einer sicher sündhaft teuren Jeans bestiegen schließlich ein geschlossenes Cabriolet und fuhren heim. Nach Stiepel? Oder in ein kleines Anwesen, ein Familienschloss vielleicht, nahe Köln. Morgens fährt er "arbeiten" im Unternehmen ihres Vaters. Keiner weiß genaues über seinen Aufgabenbereich, er am allerwenigsten. Nach ein paar Stunden kommt er wieder nach Haus, schaut seiner Frau beim Reiten zu. Sie machen etwas Fitness, bestellen Mittag bei der Küchenmagd und unterhalten sich schließlich über machtvolle Belanglosigkeiten. "Wirklich, Rutger ist jetzt Sales Manager in New York? Naja, hier in Deutschland werden die Marktbedinungen ja auch immer schlechter. Lohnnebenkosten und so. Sagt auch dein Vater."
Das ist doch ein Leben! Und jetzt war ich selbst eingeladen bei reichen Leuten. Eine etwas andere Art allerdings: Sympathische Reiche, die mit ihrem Lions Club in arme Regionen fahren und soziales Engagement für wirklich wichtig erachten. Natürlich trifft man sich ab und an zum geheimen Wild essen, Wein trinken und Jazz hören. Mit verbundenen Augen werden meine Begleiterin und ich an einen unbekannten Ort gefahren, nach etwa zwanzig Minuten sind wir da. Stiepel? Der Raum ist schlicht, aber ungeheuer stilvoll eingerichtet. Und ebenso geschmückt. Nur Kerzenschein und sehr wenig indirektes Sparbirnenlicht beleuchten die langen Tischreihen. Die Pianistin ist ein junges rumänisches Talent, extra eingeflogen, und als sie ansetzt, ist klar: Das ist doch kein Jazz! Sie spielt Chopin und Debussy mit Temperament und einer ungeheuren Leidenschaft, dass der mittelmäßige Flügel knarzt und scheppert. Vor der Zugabe, zu der sie unübersehbar ansetzen will, unterbricht der Weinhändler: "Die Küche muss jetzt auftischen, sonst ist das Essen nicht mehr auf dem Punkt".
"In Deutschland immer alles perfekt organisiert!", moppert das junge Talent schwer beleidigt und zieht mit ihrem ebenfalls eingeflogenen Begleiter ab. Erstmal eine rauchen.
Der Weinhändler, ein Professor, beginnt derweil mit einem Syrah und bringt gleich eine Frankreich-Karte mit: Da und dort kommt der und der Wein her, der so und so gekeltert wird. Ganz ohne Chemie und streng nach dem Mondkalender. Das gefällt mir natürlich und ich lasse nachschenken. Nicht ahnend, dass das Nummer eins von zehn war. Zum Finale ein streng limitierter Weißer, nur hundert Flaschen werden pro Jahr hergestellt, heute für 55 Euro im Sonderangebot. "Uh", sagt meine Begleiterin angewidert, und schiebt das Glas herüber. "Trink du mal." Gern. Als immer neue Grundlagen werden Terrine von Hase und Reh, Essenz vom Fasan, Medaillons von Reh und Frischling und Pflaumen-Pumpernickel-Creme serviert. Spätestens bei Wein Nummer acht werden auch die über 70-Jährigen gesprächig, holen ihre iPhones hervor und googlen nach längst vergessenen Schlagersängerinnen. "Es gibt über 37.000 Apps", klärt mich der Ex-OB einer Ruhrgebietsgroßstadt auf, "da ist natürlich viel Spielerei."
Ich stimme ihm zu und lächele wissend, obwohl ich von iPhones selbstverständlich keine Ahnung habe. Dafür bin ich nämlich zu jung. Aber einige zehntausend sinnvolle Apps wird es doch sicher geben. Der Ex-OB ist aber schon bei einem anderen Thema: "Ich frage die Leute immer: Was kann man hier nicht, was man woanders kann? Sogar die Schweizer Ski-Nationalmannschaft kommt zum Trainieren nach Bottrop."
"Im Sommer", schränkt ein Sitznachbar ein.
Ich bin trotzdem schwer begeistert und rede mich mit dem ehemaligen Stadtoberhaupt in einen Rausch: "Es gibt absolut keinen Grund aus Bochum wegzuziehen, da stimme ich ihnen absolut zu. Das Kulturangebot! Die aufblühende Hochschullandschaft! Das viele Grün! Die Kneipen! Die Menschen! Nur ein Meer gibt es hier nicht und man kann nicht wandern."
"Alpines Wandern", schränkt der weise Mann ein.
Und er hat natürlich Recht: Sogar Wandern kann man in Bochum. Binnen zwei Stunden habe man jeden Auswärtigen von den Vorzügen der Stadt überzeugt, auf dieses Durchschnittstempo können wir uns einigen. Wir applaudieren dem Küchen- und Serviceteam, danken dem Weinprofessor, versuchen das rumänische Jazztalent zu einer weiteren Nummer aus ihrem Marlene-Dietrich-Programm zu überreden und beißen auf Granit. Wir betreten den heiligen Boden der Stadt Bochum. Jetzt sehenden Auges. Doch es ward geblendet vom Glanz selbst der Nacht. Jetzt erstmal Geld verdienen. Aber das, ausgerechnet!, ist ja nicht so leicht in Bochum.

Mittwoch, 26. Januar 2011

Ich blogge

Nein. Ich kann nicht behaupten, man hätte mich nicht gewarnt. Während ich in meiner schönen, ruhigen, innenstadtnahen Loftwohnung sitze und Hustinettenbären von Aldi mit Glenmorangie vom Scotch-Fachhändler herunterspüle, fallen mir die Worte des befreundeten Singer/Songwriters ein: "Hör auf meine Worte: Schreib auf gar keinen Fall einen Blog! Wie kommst du überhaupt auf so eine bescheuerte Idee? Das macht mich jetzt fast ein bisschen wütend!"
"Warum denn?"
"Weil das dann doch auch Leute lesen müssen."
"Naja, das MUSS ja keiner lesen."
"Aber du wirst natürlich all deinen Freunden von dem Blog erzählen und dann immer fragen, ob sie es gelesen haben und wenn nicht, dann bist du sauer. Dadurch fühlen sie sich verpflichtet, halten irgendwann den Druck nicht mehr aus und gehen dir schlussendlich aus dem Weg."
Der Singer/Songwriter hielt einen Blog also für eine Freunschaftsvernichtungsmaschine. "Außerdem", sagte er, "wird doch wahrlich schon genug geschrieben. Da ist jedes Wort, das ungeschrieben bleibt, ein Segen."
Da hatte er einen wunden Punkt getroffen: Exakt dieser Meinung war ich nämlich ungefähr auch. Aber ich wollte mich doch auch äußern, so ganz frei heraus. Zu Themen, die mir unter den Fingernägeln jucken.
"Das ist genau das Problem, Max", klärte mich Ulrich auf.
Ulrich ist eine echte Kapazität auf unglaublich vielen Gebieten. Deshalb zucke ich aus Gewohnheit immer erstmal zusammen, wenn er so etwas, wenn er irgendetwas sagt. Ich schlucke übertrieben laut, werde rot und kann vor Nervosität nicht mehr nachdenken. Sondern nur noch blöde Fragen stellen: "Äh, was ist das Problem?"
"Dass du denkst, du kannst da frei heraus schreiben. Wenn du willst, dass der Blog gelesen wird, musst du überall und mit jedem vernetzt sein, auf den wichtigen Blogs der Region verlinkt. Da müssen interessante Themen her, cool aufbereitet, irgendwie anders. Niemand darf sich langweilen, niemand auf den Schlips getreten fühlen. Einen Blog schreiben ist wie das Korsett noch enger schnallen. Und wen interessiert schon, was dir unter den Nägeln brennt? Ich würde dir stark davon abraten, überhaupt anzufangen! Mensch Max! Aber muss du wissen..."
Aber woher um alles in der Welt sollte ich das jetzt noch wissen? Mein Selbstvertrauen war dahin. Ich hatte Angst.
"Angst muss man sich immer stellen. Es gibt nämlich gar keine Angst. Zumindest nicht als etwas negatives", riet mir der Singer/Songwriter kryptisch. Innerhalb von nur sieben Tagen und Nächten kreierte ich also einen Blog, schrieb einen ersten Eintrag und holte Meinungen ein.
"Ist doch cool", fand ein Bekannter aus dem Theaterbereich. "Allerdings habe ich keine Ahnung, was ein Blog ist. Früher hätte man das Kurzgeschichte genannt."
"Du hast was??", fragte meine Mutter entgeistert.
"Ich habe mir eine Waschmaschine gekauft, damit ich endlich unabhängig bin", entgegnete ich. "Aber wie findest du meinen Blog?"
"Ja, ganz witzig, aber verstanden habe ich nichts."
Der Singer/Songwriter hatte ihn nicht gelesen. Ulrich schaute nur eine Zeitlang arrogant, als ich ihn darauf ansprach. Tommi und Sebi fragten mich, ob das denn wirklich so gewesen sei. Martina fand: "Schöner Text - aber so typisch." Und nur Karl, mein bester Freund auf Erden, ermutigte mich schließlich: "Worüber man sich früher unterhalten hat, blogt man heute. Und mit dir konnte ich mich immer gut unterhalten."
Ich machte also weiter. Entgegen aller Widerstände. Bloggen als Selbstbehauptung in einer feindlichen Umwelt. "Falls du an meiner ehrlichen Meinung interessiert bist", schreibt mir gerade Rolf im Facebook-Chat, "dein erster Eintrag war wirklich richtig gut, aber danach kam erstmal nichts. Wohl Ladehemmung. Und dann ging es ungebremst bergab." Ich mag den Winter.

Freitag, 21. Januar 2011

Herbert, Xavier, Philipp, Alin, Tom, Judith

Während ich Zuhause sitze und Wir sind Helden höre, auch so ein ganz wichtiger Leitstern in der deutschsprachigen Popmusik, denke ich an den vergangenen Abend. An Herbert Grönemeyer, Philipp Poisel, Xavier Naidoo, Alin Coen, Tom Liwa, Jochen Distelmeyer und heute völlig unbekannte Berliner Jazzer für 12 Mark. Was da alles zusammenkam, im Kultclub Zeche. Wenn die Nachwehen der beschwerliche Reise ins entfernte Weitmar endlich aus den Knochen weichen, wird klar, was hier zu erleben ist mit Auge und Ohr am Puls der Zeit: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Popgeschichte. Auf der Bühne: Philipp Poisel, eine Entdeckung vom "berühmtesten Sohn unserer Stadt" (Zitat Durchschnittsbürger) Herbert Grönemeyer, verlegt auf dessen Label Grönland. Philipp Poisel hat einen Pathos wie Herbert, singt wie Xavier Naidoo, nur knödeliger und wenn er spricht, dann wie ein Marathonläufer bei Kilometer 39. "Der hat einen Atemfehler", vermutet meine Begleiterin Miriam. Beim Singen fällt das gar nicht weiter auf. Aber die Texte, auch wenn sie nicht den Höhepunkt der abendländischen Lyrik darstellen, kann er niemals selbst geschrieben haben. Er sagt nämlich Sätze wie: "Ich wollte immer ein Album machen, wo eine Aussage hat." Trotzdem hängen hunderte junger Frauen, ja, man möchte sie als Mädchen bezeichnen, an seinen Lippen, raunen braungebrannte Surferromantik durch den geschichtsträchtigen Saal und kneifen manchmal ihre Partner in den Hintern: "Kannst du nicht auch mal so süß sein, wie der?" Wenn irgendwann alles gleich klingt, ist genug Zeit, den Wandbehang zu studieren: Ein Zechenprogramm aus dem Jahr 1981. "Wolfgang Niedeckens BAP" spielen da für 8 Mark, ermäßigt 6. Ein Berliner Jazzprojekt (Ukundu Maluku?) hingegen kostet stattliche 18 Mark. Verkehrte Welt. Heute spielen BAP vor hundertausenden im Hyde Park, während es in Berlin gar keinen Jazz mehr gibt, sondern nur noch Techno und vereinzelt Songwriting. Im genialen Nebenraum malt schon die fleißige Vorband Plakate (CDs und Poster hier!!!). Warum der Nebenraum genial ist? Weil da auf einem Monitor und in guter Soundqualität das Konzert zu verfolgen ist und man dabei Kickern kann. Wer die Vorband ist? Alin Coen aus Weimar, die eigentlich mal ein Album mit Tom Liwa aufnehmen wollte, jetzt aber mit Band beim Label "Pflanz einen Baum" gelandet ist. "Es gibt nur noch Illuminaten oder liebenswerte Spinner im Biz", findet Tom per SMS. Und Alin erklärt: "'Pflanz einen Baum' war so ein Metal-Core-Hit von uns", und grunzt es mir ins Ohr: "PFLANZ! EINEN! BAUM!". Ja, liebenswerte Spinner. Wie hab ich nochmal angefangen? Achja: Wir sind Helden. Die Platte ist jetzt zu Ende. Neues Best-of-Album heißt "Tausend Wirre Worte" enthält wirklich Hits Hits Hits. Muss jetzt aber zum Schluss kommen. Fehlerkorrektur und lustige Links folgen demnächst. Danke.