Montag, 14. Februar 2011

Sinnlos (Fragment)

Ein Dilemma, in dem man als Einwohner des Ruhrgebiets immer steckt: Einerseits findet man es hier auf eine merkwürdige, fast perverse Art so wundervoll, dass man niemals weg will. Andererseits geben ein Hamburg-, Berlin- oder sogar Köln-Besuch stets zu denken. Da ist es nämlich noch viel besser. In Hamburg angekommen, ist mir das sofort wieder klar. Die Luft. Sie riecht so selbstverständlich nach Gekonnt und fast gar nicht nach Gewollt. Höchstens an der Elbphilharmoniebaustelle. An der Ticket-Ausgabe im Hauptbahnhof lächelt die Ticket-Verkäuferin ein typisches Hamburger Lächeln: Freundlich und vorsichtig. "Du bist also der Max aus Bochum", sagt sie und drückt mir einen Umschlag in die Hand. "Stefans Bochum Freund" steht drauf. Fritzi vom Ticket-Shop kennt nämlich meinen Freund Stefan, den Ex-Bochumer Punk, und dealt uns Karten für Christiane Rösinger.
"Ich bräuchte noch drei weitere Karten, ist das drin?", frage ich.
"Genau drei sind noch da", sagt Fritzi und wir freuen uns eine Runde. Auch sie kommt mit.
Den Begriff Neuralgisches Konzert erwähne ich zum ersten Mal gegenüber Bertram. Ich finde das passend, weil ich das Gefühl habe, alle Fäden, die sich vor dem Hamburg-Besuch fast von selbst erstaunlich weitläufig gesponnen haben und auch vor Ort immer noch spinnen, laufen dort zusammen. Dass ich den Begriff "neuralgisch" eigentlich falsch benutzt habe, fällt mir erst jetzt auf, wo ich es bei Wikipedia nachklicke. "Neuralgischer Punkt" bezeichnet nämlich nicht einen Nervenknoten oder ein Nervenzentrum, sondern "ein Umfeld, eine Situation oder einen Ort, welcher bestimmte Schwierigkeiten oder Risiken birgt". Im Prinzip habe ich damit aber trotzdem ins Schwarze getroffen. Denn wenn viele verschiedene Menschen aufeinandertreffen, kann das immer Risiken bergen. Husni Mubarak wird das sicher bestätigen.
Alles, was wir vorher erleben, erscheint mir so wie eine Ouvertüre zum Neuralgischen Konzert.
"Das Neuralgische Konzert."
"Ich kann's nicht mehr hören", sagt Bertram. "Wenn du das dauernd so betonst, legst du viel zu viele Erwartungen da rein und die kann kein Abend der Welt erfüllen."
Wir laufen durch die großartige Stadt und frieren uns den Arsch ab. Endlich im Thalia-Theater angekommen, sitzen wir scheiße. Wie immer, wenn ich dieses legendenumrankte Haus aufsuche. Das letzte Mal saß ich im Rang und schaute praktisch aus der Vogelperspektive auf die Frisuren der Schauspieler. Heute in der letzten Reihe des Parketts, wo die tiefhängende Tribüne den Blick auf die Bühne halb verstellt. Der "Hamlet" ist glücklicherweise langweilig und so macht es nichts. Den meisten Applaus heimst mit Abstand der Bühnenmusiker Jens Thomas ein. Deshalb ist er also aus Bochum verschwunden: Weil er es in der großen Stadt geschafft hat.
In der Washington Bar, die laut derzeitiger Leuchtanzeige "Hington Bar" heißt, feiern wir das Ende des besten Campus-Magazin der Welt und schleppen die Fernseh-Praktikantin Beate mit in den Pudel. Sie ist Wienerin, spricht astreines wienerisch und das hören wir einfach gern. Bertram verabschiedet sich zwischendurch, weil er draußen "etwas kaufen" will.
"Wo war Betram denn so lange?", fragt mich Beate, als er wieder auftaucht.
"Er ist draußen etwas kaufen gegangen", erkläre ich ihr.
"Was denn?"
Ich überlege kurz. "Getränke", sage ich dann.
"Ach, sind die draußen billiger?", fragt Beate.
Der nächste Morgen ist die letzte Coda der Ouvertüre für das Neuralgische Konzert. Finde ich.
"Max!", ermahnt mich Bertram streng, geht aber trotzdem mit zum Frühstücksportugiesen gegenüber der Roten Flora. Wie gut er ist, lässt sich, wie so vieles, mit meinem beschränkten Wortschatz leider nicht beschreiben.
"Wenn Sie die Rote Flora tatsächlich eines Tages abreißen, dann ist hier Krieg", sind wir uns einig und gehen auf den Flohmarkt. Der Verkäufer am Bücherstand schafft es tatsächlich, mir Maarten 't Harts Buch "Bach und ich" ohne die dazu gehörige CD mit Hörbeispielen zu verkaufen.
"Sie sind wohl durch die Verkäuferschule gegangen", lobe ich ihn.
Sein Kopf rattert und er stottert: "Durch die Verkäuferschule ... äh ... des Lebens!"
Ich freue mich, dass er auch erste Lektionen in Schlagfertigkeit gelernt hat.
Es wird immer kälter und das Neuralgische Konzert naht. Bertram und ich liegen auf dem Boden seines klar strukturierten Wohnzimmers und starren an die Decke.
"Ob es wohl wirklich so gut wird", frage ich mehr mich selbst als ihn.
"Nein, SO gut kann es gar nicht werden", entgegnet Bertram leicht genervt.
Ich frage mich, was er hat. Immerhin kommen zu dem Konzert: Marie, die Top-Journalistin, die immer auf der Suche ist nach einem abgefahrenen Abenteuer und dafür auch die letzten Spelunken auscheckt. Fritzi, die Ur-Hamburger Ticket-Verkäuferin mit dem unbedingten Willen zur Party. Stefan, der Punk, der gern viel trinkt, sich dann alle drei bis vier Minuten in eine neue Frau verliebt und sie das auch wissen lässt. Betram, der über beide Ohren verliebt ist in Edna. Edna, die geheimnisvolle, unnahbare Schönheit im dunklen Gewand. Ihre namen- und profillose Freundin. Von Weltstadt zu Weltstadt: Beate, die aufgeschlossene Fernsehpraktikantin aus Wien. Und Mubu, ein großer, stämmiger Afrikaner mit faltig-knautschigem Gesicht aus ihrer WG. Er ist abschiebegefährdet, weil keiner ihm abnimmt, dass er erst 17 Jahre alt ist.
Mit dem Fahrstuhl wird man hinaufgefahren in das Konzertlokal. Es heißt Uebel & Gefährlich und liegt im vierten Stock eines furcheinflößenden Bunkers.
"Sicher ein bestimmte Schwierigkeiten oder Risiken bergender Ort", denke ich und freue mich auf die anderen.
Die sind aber noch nicht da. Nach und nach tröpfeln sie herein und schlagen kläglich auf. Fast niemand wechselt ein Wort, alle starren sich nur schüchtern an. Ich hole mir vor lauter Schreck eine Whiskey-Cola und lausche dann mit den anderen still Christiane Rösinger: "Es ist alles so sinnlos. Das hält ja gar kein Mensch mehr aus. Da muss man sich doch einfach hinlegen. Oder man steht erst gar nicht auf."

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