Die Freunde,
die meinen Zimmernachbarn Joris besuchen, sind alle im selben Motorrad-Club. Sie
sprechen über Hubräume und Abgasrohre. Mit einem Motorradunfall hat Joris‘
Odyssee durch die Krankenhäuser der Umgebung angefangen: Seine erste OP
behandelte einen komplizierten Bruch im Ringfinger. Danach bekam er Morbus Crohn,
eine chronische Darmkrankheit. Dann kam der Hodentumor, vermutlich nicht
gutartig, der ihn nun genau wie mich auf die Urologie in der Herner Panoramastation
mit dem phantastischen Blick auf den Sonnenuntergang hinter einem Kraftwerk
verschlägt. Joris ist 25 Jahre alt. Es gibt diese Geschichten, die alles
relativieren.
Als er sich
den Finger gebrochen hatte und seine erste OP bevorstand, hatte er auch noch
Angst vor der Vollnarkose. So wie ich jetzt. Die Vorstellung, dass ich einfach
an und ab geschaltet werde, dass da ein Arzt sitzt, der mein Leben in seinen
Händen hält und wenige Milliliter eines Medikaments entscheiden können, ob ich
nie wieder aufwache, ist grausam. Ich stelle mir den Narkosearzt vor wie den
Fährmann Charon, der die Totgeweihten über den Styx bringt. Doch in
Wirklichkeit sieht er aus wie der Comicbuchladenverkäufer von den Simpsons,
wohl beleibt, die Haare zu einem Zopf gebunden, und erzählt mir: „Unsere
Medikamente sind wirklich gut. Sie kriegen bei der Vollnarkose ein Schlaf- und ein
Schmerzmittel. Mit dem Schlafmittel hat sich Michael Jackson aus dem Leben
geschossen und mit dem Schmerzmittel Prince.“
„Ich es
klug, das jemandem zu erzählen, der Angst vor der Narkose hat?“, frage ich.
In der Nacht
vor der OP denke ich über die Nachbarschaft von Schlaf und Tod nach und
versuche, mich in einem Zwischenreich zu halten. Ich döse, schwitze, wälze
mich, werde von Visionen heimgesucht. Eine fühlt sich an wie einer dieser
seltenen Momente der Klarheit über das Wesen unserer Existenz: Ich fühle, sehe,
rieche, höre und schmecke zuerst deutlich, wie sich das Leben für mich gestaltet.
Also für mein Ich, mein Ego mit seinen Genen, seiner Sozialisation, seinem
geistigen Hintergrund, auf den alle Erscheinungen auf diese ganz spezielle,
einzigartige Weise treffen. Dann gibt es einen Cut und ich nehme alle
Perspektiven aller Lebewesen auf einmal wahr. Ich kehre zurück in das kosmische
Kollektiv. Ja, so könnte Sterben sein. Wird es mir ein paar Stunden später
passieren?
Ich erinnere
mich an eine Sauerstoffmaske, die ich auf das Gesicht setze, während ich
irgendeine Frage beantworten muss. Ich höre meine Antwort aus weiter Ferne.
Dann liege ich im Aufwachraum und eine Schwester sagt: „Das ist Herr Bach, ihr
Operateur!“
Ich erwidere
euphorisch und hoch erfreut: „Herr Bach!!!“
Aber der Arzt
dreht sich nur weg: „Es hat keinen Sinn.“
Fünf Stunden
später erklärt er mir, dass er zu diesem Zeitpunkt schon zehn Minuten mit mir
gesprochen habe. „Aber sie haben immer wieder dieselbe Frage gestellt.“
Meine
Erinnerung ist allerdings eine lückenlose Erzählung: Ich habe ihn erfreut
begrüßt und er hat sich weg gedreht. Aber ich darf meiner Erinnerung an diesen
Moment wohl nicht trauen. Vielleicht funktioniert so Demenz: Das Gehirn
spiegelt seinem Ich eine lückenlose Erfahrungswelt vor, aber die Lücken für die
Welt da draußen werden immer größer. „Sie haben immer wieder dieselbe Frage
gestellt.“
„Was habe
ich denn gefragt?“
Herr Bach
überlegt. „Das kann ich Ihnen jetzt nicht mehr sagen.“
Rund sieben
Stunden ist es mittlerweile her, dass ich operiert wurde und immer noch bin ich
mir nicht ganz sicher, ob ich vielleicht doch gestorben bin und der Tod nur
einen anderen Modus hat, als ich ihn mir vorgestellt habe. Die Welt, in der ich
mich ungelenk bewege, wirkt wie eine leicht verschobene Parallelwelt. Die
Menschen verhalten sich ungefähr so wie ich es von vor der OP kenne, aber
irgendetwas ist anders. Ihre Bewegungen langsamer, die Sprache gedämpft… Nein,
eigentlich ist alles wie immer, aber es fühlt sich nicht richtig an.
Aus meiner
linken Körperseite führt ein Schlauch direkt aus der Niere kommend blutig-eitrige
Flüssigkeit in einen Beutel. Aus meinem Penis führt ein Schlauch blutiges Urin
in einen Beutel. Über einen Zugang an meinem Arm wird ein Schmerzmittel
eingeführt, später Kochsalzlösung. Hier raus, da rein. Mein Körper ist eine
Maschine. Sie wird langsam wieder eingeschaltet.
„Wahrscheinlich
habe ich alle Steine ausgeräumt“, erklärt Dr. Bach bei der Visite. Er hängt
sich gemütlich in einen Stuhl und erklärt mir ungefähr eine halbe Stunde lang
alle Verfahren zur Nierenstein-Entfernung, ihre Vor- und Nachteile und warum es
am Ende doch nicht so viel Sinn macht, genau zu wissen, woraus die Nierensteine
nun bestanden: „Es gibt in jedem Fall drei gute Tipps zur Steinvermeidung:
Abspecken, Bewegung und viel Trinken – rund um die Uhr.“
Ich frage
mich: „Wieso nimmt der sich so viel Zeit?“ und stelle dann die unweigerliche
Frage, die immer ein wenig nach Gefängnisinsasse klingt: „Wann komme ich denn
raus?“ Dr. Bach nennt drei Cliffhanger: „Es könnte sein, dass noch Steine in
der Niere verblieben sind.“ „Es könnte sein, dass sich ein Bruchstück im
Harnleiter verfangen hat und der Urin nun nicht in die Blase abfließen kann.“ „Es
könnte sein, dass Sie Fieber bekommen.“
Falls das
alles nicht passiert, kann ich zwei Tage später nach Hause gehen. Der fünf Millimeter
große Tunnel, durch den Instrumente in meine Niere eingefahren sind, wächst
dann von alleine zu. Ich muss nur ab und an überprüfen, ob er nicht feucht ist.
Das ist die Ungewissheit, die bleibt: Ob der Tunnel auch richtig zuwächst.
Joris wird in den nächsten Tagen auf die Analyse seiner Krebsmarker warten –
vielleicht hat der Tumor gestreut. Dabei will er doch einfach nur Motorrad
fahren.
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