Dienstag, 17. April 2018

In der Unterwelt

Es ist nicht einmal die Operation an sich, die mir Angst macht. Das ist ja ein gut nachvollziehbarer, letztlich mechanischer Vorgang: Mit einem kleinen, etwa fünf Millimeter großen Schnitt durch Haut und Fleisch legt der Chirurg einen Tunnel bis in die Niere und führt winzige Instrumente ein. Zum Beispiel einen Laser, mit der er meine Nierensteine zerschneiden kann. Und eine Schlinge, mit der er die Bruchstücke dann herausholt. Der Tunnel bleibt danach erstmal bestehen, durch einen Schlauch laufen Wundwasser, Urin und Blut durch einen Katheter nach draußen und baumeln in einem großen Beutel in der Nähe meines Körpers. Die Operateure behandeln den menschlichen Körper nicht groß anders als Kfz-Mechaniker ein Kfz: Flüssigkeiten werden abgelassen oder ausgetauscht, Leitungswege temporär umgelegt, der Vergaser vom Dreck gereinigt, der sich über die Jahre angesammelt hat.

Die Freunde, die meinen Zimmernachbarn Joris besuchen, sind alle im selben Motorrad-Club. Sie sprechen über Hubräume und Abgasrohre. Mit einem Motorradunfall hat Joris‘ Odyssee durch die Krankenhäuser der Umgebung angefangen: Seine erste OP behandelte einen komplizierten Bruch im Ringfinger. Danach bekam er Morbus Crohn, eine chronische Darmkrankheit. Dann kam der Hodentumor, vermutlich nicht gutartig, der ihn nun genau wie mich auf die Urologie in der Herner Panoramastation mit dem phantastischen Blick auf den Sonnenuntergang hinter einem Kraftwerk verschlägt. Joris ist 25 Jahre alt. Es gibt diese Geschichten, die alles relativieren.

Als er sich den Finger gebrochen hatte und seine erste OP bevorstand, hatte er auch noch Angst vor der Vollnarkose. So wie ich jetzt. Die Vorstellung, dass ich einfach an und ab geschaltet werde, dass da ein Arzt sitzt, der mein Leben in seinen Händen hält und wenige Milliliter eines Medikaments entscheiden können, ob ich nie wieder aufwache, ist grausam. Ich stelle mir den Narkosearzt vor wie den Fährmann Charon, der die Totgeweihten über den Styx bringt. Doch in Wirklichkeit sieht er aus wie der Comicbuchladenverkäufer von den Simpsons, wohl beleibt, die Haare zu einem Zopf gebunden, und erzählt mir: „Unsere Medikamente sind wirklich gut. Sie kriegen bei der Vollnarkose ein Schlaf- und ein Schmerzmittel. Mit dem Schlafmittel hat sich Michael Jackson aus dem Leben geschossen und mit dem Schmerzmittel Prince.“

„Ich es klug, das jemandem zu erzählen, der Angst vor der Narkose hat?“, frage ich.

In der Nacht vor der OP denke ich über die Nachbarschaft von Schlaf und Tod nach und versuche, mich in einem Zwischenreich zu halten. Ich döse, schwitze, wälze mich, werde von Visionen heimgesucht. Eine fühlt sich an wie einer dieser seltenen Momente der Klarheit über das Wesen unserer Existenz: Ich fühle, sehe, rieche, höre und schmecke zuerst deutlich, wie sich das Leben für mich gestaltet. Also für mein Ich, mein Ego mit seinen Genen, seiner Sozialisation, seinem geistigen Hintergrund, auf den alle Erscheinungen auf diese ganz spezielle, einzigartige Weise treffen. Dann gibt es einen Cut und ich nehme alle Perspektiven aller Lebewesen auf einmal wahr. Ich kehre zurück in das kosmische Kollektiv. Ja, so könnte Sterben sein. Wird es mir ein paar Stunden später passieren?

Ich erinnere mich an eine Sauerstoffmaske, die ich auf das Gesicht setze, während ich irgendeine Frage beantworten muss. Ich höre meine Antwort aus weiter Ferne. Dann liege ich im Aufwachraum und eine Schwester sagt: „Das ist Herr Bach, ihr Operateur!“

Ich erwidere euphorisch und hoch erfreut: „Herr Bach!!!“

Aber der Arzt dreht sich nur weg: „Es hat keinen Sinn.“

Fünf Stunden später erklärt er mir, dass er zu diesem Zeitpunkt schon zehn Minuten mit mir gesprochen habe. „Aber sie haben immer wieder dieselbe Frage gestellt.“

Meine Erinnerung ist allerdings eine lückenlose Erzählung: Ich habe ihn erfreut begrüßt und er hat sich weg gedreht. Aber ich darf meiner Erinnerung an diesen Moment wohl nicht trauen. Vielleicht funktioniert so Demenz: Das Gehirn spiegelt seinem Ich eine lückenlose Erfahrungswelt vor, aber die Lücken für die Welt da draußen werden immer größer. „Sie haben immer wieder dieselbe Frage gestellt.“

„Was habe ich denn gefragt?“

Herr Bach überlegt. „Das kann ich Ihnen jetzt nicht mehr sagen.“

Rund sieben Stunden ist es mittlerweile her, dass ich operiert wurde und immer noch bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich vielleicht doch gestorben bin und der Tod nur einen anderen Modus hat, als ich ihn mir vorgestellt habe. Die Welt, in der ich mich ungelenk bewege, wirkt wie eine leicht verschobene Parallelwelt. Die Menschen verhalten sich ungefähr so wie ich es von vor der OP kenne, aber irgendetwas ist anders. Ihre Bewegungen langsamer, die Sprache gedämpft… Nein, eigentlich ist alles wie immer, aber es fühlt sich nicht richtig an.

Aus meiner linken Körperseite führt ein Schlauch direkt aus der Niere kommend blutig-eitrige Flüssigkeit in einen Beutel. Aus meinem Penis führt ein Schlauch blutiges Urin in einen Beutel. Über einen Zugang an meinem Arm wird ein Schmerzmittel eingeführt, später Kochsalzlösung. Hier raus, da rein. Mein Körper ist eine Maschine. Sie wird langsam wieder eingeschaltet.

„Wahrscheinlich habe ich alle Steine ausgeräumt“, erklärt Dr. Bach bei der Visite. Er hängt sich gemütlich in einen Stuhl und erklärt mir ungefähr eine halbe Stunde lang alle Verfahren zur Nierenstein-Entfernung, ihre Vor- und Nachteile und warum es am Ende doch nicht so viel Sinn macht, genau zu wissen, woraus die Nierensteine nun bestanden: „Es gibt in jedem Fall drei gute Tipps zur Steinvermeidung: Abspecken, Bewegung und viel Trinken – rund um die Uhr.“

Ich frage mich: „Wieso nimmt der sich so viel Zeit?“ und stelle dann die unweigerliche Frage, die immer ein wenig nach Gefängnisinsasse klingt: „Wann komme ich denn raus?“ Dr. Bach nennt drei Cliffhanger: „Es könnte sein, dass noch Steine in der Niere verblieben sind.“ „Es könnte sein, dass sich ein Bruchstück im Harnleiter verfangen hat und der Urin nun nicht in die Blase abfließen kann.“ „Es könnte sein, dass Sie Fieber bekommen.“

Falls das alles nicht passiert, kann ich zwei Tage später nach Hause gehen. Der fünf Millimeter große Tunnel, durch den Instrumente in meine Niere eingefahren sind, wächst dann von alleine zu. Ich muss nur ab und an überprüfen, ob er nicht feucht ist. Das ist die Ungewissheit, die bleibt: Ob der Tunnel auch richtig zuwächst. Joris wird in den nächsten Tagen auf die Analyse seiner Krebsmarker warten – vielleicht hat der Tumor gestreut. Dabei will er doch einfach nur Motorrad fahren.

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