Sonntag, 14. August 2011

Haldern 2011: Kleine Kompromisse


Umso größer die Gruppe, mit der man verreist, desto mehr Zeit verbringt man mit Warten. Deshalb sollte sie eigentlich möglichst klein sein, die Haldern-Peer-Group 2011. Ich hatte much stuff to think about going round in my head und wollte keine Kompromisse eingehen. Bands gucken und nachdenken. Zwischendurch mal ein Mineralwasser und zwei Tic Tac, vielleicht irgendwo ein Grillwürstchen abstauben als Exzess. Wir waren vier: Tom, mein melancholischer Jugendfreund mit Hang zum Einsiedlertum. Thomas mit den treuen Hundeaugen und Hang zur Melancholie. Und Agathe, das Goldstück, früher jede Party mitgenommen, heute ruhiger und irgendwie auch – melancholischer. Doch dann kam ja doch noch das Pärchen aus dem Pott dazu, früher dem leichten Leben zugewandt, heute ein Kind erwartend. Da liegt die Frau morgens schon mal mit Sodbrennen im Auto, weil der nervöse Embryo die ganze Magensäure aufscheucht, während sich der Mann draußen am Frühstücksbier festhält. Mehr kann er nicht tun. Ihr den Schmerz ja nicht wegnehmen. Und Gesellschaft, die kann sie gerade einfach nicht haben. Ich kann es ihr nachfühlen.

Dann die beiden „Schwuppen“, wie Sunny zu sagen pflegt, oder: die beiden „schwulen Mobys“: herzensgute, höfliche und liebenswerte Menschen, zelten auch bei uns. Zum ersten Mal auf dem Haldern, wissen sie noch nicht genau, wie das geht – Festival. Die Beiden sind immer in Aufbruchstimmung, Entdeckerlaune. Typischer Satz: „Wir gehen mal das Dorf erkunden!“ Das Dorf Haldern, das wir in mittlerweile acht bis neun Jahren Festivaltradition nicht einmal zu Gesicht bekamen. Immerhin haben die beiden auf die Art das Konzert des Norwegers Moddi in der Dorfkirche erleben dürfen: Mit Akkorden, Klavier, Cello und ein bisschen Percussion. Total schöne Songs. Melancholisch. Passte super in den Kirchenraum! Kann man sich vielleicht mal ein Album anhören.

Und gleich nebenan campiert dann ja doch auch noch die alt bekannte Oasis-Truppe. Ihr legendäres Internetforum, auf dem harte Diskussionen über die Zusammenstellung von Japan-Sinlges der Band geführt wurden und viele internationale Freundschaften geknüpft, löst sich zwar langsam auf. Typischer Satz: „In Zeiten von Facebook braucht niemand mehr ein Forum.“ Immer mit diesem melancholisch geäußerten Zusatz: „Leider.“ Aber immerhin ist die Truppe wieder am Start. Mit einer Palette Amstel pro Person, gekauft beim Holland-Trip, an den der Festivalbesuch nahtlos anschließt. Mit Freunden aus Österreich, die die Gitarre mitgebracht haben und um Mittag rum schon zum fünften Mal „Slide Away“ spielen. „Ein schöner Song“, erklärt ein Oasis-Forums-Urgestein. Gibt aber zu bedenken: „Fünf Mal am Tag brauch ich den nicht mehr.“ Glücklichweise kommt ein dicker, betrunkener Mann des Weges, bekleidet nur mit einer tief hängenden Unterhose. „Gib mal her das Ding“, sagt er, bestimmt auf die Gitarre zeigend. Widerspruchslos wird ihm das Instrument übergeben und er spielt einen deutschsprachigen Song, den keiner kennt (selbst geschrieben?).

Ich wende mich ab. Eigentlich wollte ich mich doch um meine eigenen, drängenden Probleme kümmern. Doch dann fällt mir dieser Gedanke wieder ein, der mir einmal beim Lesen eines kurzen Textes von Wolfgang Hildesheimer kam: Dass man immer ein gewisses Problemlevel braucht, um – nun ja – glücklich zu sein. Oder zumindest, das Leben auf einem erträglichen Maß fahren zu können. Ja, ich habe ein Problem, aber es spielt sich nicht dauernd in den Vordergrund. Es schwingt immer mit wie Grundakkord auf dem Harmonium in der indischen Musik. Es zeichnet einen wehmütigen Schmerz in mein Gesicht, den die Peer Group gern als typische Max-Melancholie missdeutet. Doch wie gut lässt er sich hier übertönen: Mit dem leichten Nachmittags-Kater des Ankunftstages, ausgelöst durch Sekt mit Aperol, Mildem Multivitaminsaft mit Grasovka, Fiege Gründer Hell und Gegrilltem. Mit der feucht-warmen Luft, die über die frisch gemähten Wiesen zieht. Mit dem Geklimper der Zeltstangen beim Aufbau, dem schweren Atem der betagten VW-Busse, den plärrenden Ghettoblastern oder MP3-Player-Stationen, dem Geruch von längst vergessenen, halb geleerten Ravioli-Dosen.

Und dann zerbricht auch noch meine Brille: Ich bin endgültig umfangen, umgarnt von dir, Haldern. Wandere durch die schemenhafte Welt, den Nieselregen, ekle mich vor den Dixieklos und warte, warte auf die anderen. Und bin glücklich, sort of.

Es hilft ja nichts, noch mal die Bands zu boykottieren. Vergangenes Jahr hat das zu einem Overload an Campingplatz-Atmosphäre geführt. Klar ärgern wir uns am ersten Festivaltag eine Runde über das fucking Spiegelzelt. Ich schreibe es immer gerne noch einmal auf: Nur etwa zehn Prozent der Festivalbesucher passen dort hinein, am ersten Tag stellt es jedoch die einzige Bühne dar. So bilden sich absurd lange Schlangen aus verzweifelten Menschen, die aus purer Not auf die aufgestellte Leinwand starren, auf die die Konzerte von drinnen übertragen werden: Bildqualität top, Sound flop. Die Musik ist entweder zu leise, oder falsch ausgesteuert oder knarzt und knackt und fällt aus. Als ob der berühmte Festival-Organisator durch die Reihen laufen würde und jedem Besucher ins Gesicht spucken: „Herzlich willkommen!“

Als alle schon schlafen überrede ich Tom, noch einmal aufzustehen. Wir wollen uns das Brandt Brauer Frick Ensemble anschauen. Ein Freund aus der Heimat hat es empfohlen: „Super Musiker! Super Musiker!“ Brandt Brauer Frick machen Techno mit Instrumenten. Das ist zwar nicht neu. Aber was ist heute noch neu? Wenigstens ist keine Schlange mehr vorm Spiegelzelt. Die schlafen ja alle schon. Oder dancen vor einer kleinen Bühne im vorgelagerten Biergarten. Oder versuchen, zu dancen, sich zu verhalten wie ein Clubpublikum. Merkt man aber, dass wir hier nicht zum Beispiel auf dem Melt sind. Die von Dorfjugend durchmischten Besucher sind unsicher, wie man sich bei der House-Party von Coma zu verhalten hat: Einige heben die Hände und jubeln, einige hüpfen auf und ab… ganz okay soweit. Einige spielen aber auch Luftgitarre oder bangen. Viele stehen mit einem Bier am Rand und werden über beide Ohren rot, weil sie vor Schreck über den Break ihre Zigarette haben fallen lassen. Beim Brandt Brauer Frick Ensemble kann man getrost einfach bewegungslos zuhören, wie ganz normal beim Singer/Songerwriter-Konzert. Die Herren spielen minimalen und slowen Techno, immer wie auf einen total krassen Höhepunkt zu, der aber nie kommt. Stattdessen ist der Song zu Ende. Das ganze Konzert auf die Art quasi eine fortwährende Enttäuschung. Die über den Tellerrand schauende Indie-Crowd klatscht trotzdem höflich. Als es dann auch noch ein Feedback gibt, ist jedoch echt mal genug. Massenflucht, man verdrückt sich.

Tschüss Techno, hallo Indie-Pop. Klar: Wild Beast mögen sie hier. Brit Pop mit leicht darkem Ambient-Wave-Einschlag, tolle Stimme über sphärischem Gitarrenklängen und feinen Elektro-Beats. Zum melancholisch auf den Boden starren und wankelmütig hin und her bewegen. Klar: Gisbert zu Knyphausen mögen sie hier auch. Spielt ein ansprechendes Kurzprogramm, der melancholische junge Mann vom badischen Weingut. Textzeilen wie „Diese Tage sind so fern von allem: Hitze und Beton. Die große Stadt, sie liegt da wie ein verwundeter Vogel. So auch ich, so auch ich. Ich denke und denke. Wie immer viel zu viel“, treffen direkt ins Herz. Gemeinsam mit allen weine ein bisschen nach innen. Und bereite mich auf den heimlichen Höhepunkt vor: Den Auftritt von Wir sind Helden.

Wir sind Helden sind ja so eine Band, die ich mag.
„Ach quatsch, Max, die magst du nicht“, klärt mich Marina auf.
„Wieso denn nicht?“
„Na, weil die einfach nicht gut sind. Irgendwie – zu seicht. So: langweilig. ‚Denkmal’… was für ein fürchterlicher Song!“
Wo ich hinkommen, dasselbe Lied: Wir sind Helden sind abzulehnen. Ich ernte verachtende Blicke, wenn ich nur den Bandnamen ausspreche. Die Leuten scheinen irgendwie beleidigt zu sein. Weil die Gruppe diesen Mega-Erfolg hatte? Weil Everybodys Darlings Zugehörigen der Haldern-Indie-Minorität einfach nicht aus dem Herzen sprechen KÖNNEN? Weil Judith Holofernes gern dieses halbgare Gesellschafts- und Konsumkritik-Geschwafel von sich gibt? Letztere könnte ich ja noch ansatzweise verstehen. Aber mein Gott: Gisbert hat über treffende Gefühlsbeschreibungen hinaus ja auch nicht viel zu sagen. Und die Wombats bestimmt auch nicht. Das Oasis-Forum jedenfalls will während des Wir-sind-Helden-Auftritts geschlossen am Grill sitzen bleiben und sich gegenseitig die Ohren zuhalten. Weil der Wind ja einen Fetzen von „Denkmal“ herüber wehen könnte. Ob überhaupt jemand kommen wird?

Das Festivalgelände ist voll wie noch nie. „Na also“, sagt Thomas, „da hat die Indie-Gemeinde ihre Helden ja doch lieb.“ Ganz ohne Ironie feiern sie die Band und sehen gut dabei aus. Und man muss das auch mal so ganz unironisch feststellen: Echt gute Musik.  Total eingängig, klar, aber nicht seicht. Schon informiert über die popmusikalischen Entwicklungen der vergangenen 40 Jahre. Übersetzt in einen Sound von heute wie ihn weder Juli hinbekommen haben, noch Silbermond, noch Casper, noch Ich & Ich. Und schon gar nicht (hier den Name von beliebigen deutschsprachigen Radio-Lieblingen einfügen). Als sie „Wenn es passiert“ spielen, bin ich wie paralysiert, hypnotisiert. Hier spricht mir jemand ungewohnt deutlich aus der Seele, mit einer ungeahnte Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit. Mit tollen, drängenden Gitarren, organischer Orgel, fluffigem Bass und einem irrsinig sexy Schlagzeug. Ich blicke mich um, suche die Blicke der anderen Zuschauer: „Hört ihr das?“, fragt mein Blick. „Das bin ich!“ Möchte ich sagen. Möchte ich denken. Hammer-Egozentrisch, klar. Und vielleicht auch gar nicht wahr. Ich will das jetzt, dass diese umstrittenen Helden, die sich vielleicht auflösen oder zumindest zeitweise, mich so tief berühren. Ich nehme mir vor: Den Text noch einmal nachschlagen. Hier ist er:

„Ein Herzschlag nur für mich
Und die, die bei mir sind
Augen auf, schaut euch das an
Wer dafür keine Tränen hat wird morgen blind
Wenn ihr das nicht liebt, was dann
Jeder liebe das so viel er kann

Ein Blitzschlag nur für mich
Und die, die bei mir sind
Wer jetzt zweifelt sieht nicht klar
Ganz egal wie viel davon die Zeit sich nimmt
Wer jetzt blinzelt war nicht da

Vielleicht ist es wirklich nur ein Jahr
Aber ich will niemals fragen wo ich war
Wo war ich als das wahr war?

Ich will da sein
Wenn die Zeit gefriert
Ich will da sein
Wenn sie explodiert
Und wenn sich dabei
Mein Verstand verliert
Ich will da sein
Wenn es passiert

Ein Herz, ein Schlag, ein Blitz
Für die, die einsam sind
Augen auf schaut euch das an
Wollt ihr wirklich zählen wie die Zeit verrinnt
Wenn die Welt auch so was kann

Vielleicht ist es wirklich nur ein Jahr
Aber ich will niemals fragen wo ich war
Wo war ich als das wahr war?

Ich will da sein
Wenn die Zeit gefriert
Ich will da sein
Wenn sie explodiert
Und wenn sich dabei
Mein Verstand verliert
Ich will da sein
Wenn es passiert
Wenn es passiert
Wenn es passiert
Wenn es passiert."

Viele Versatzstücke tragen letztendlich dazu bei. Auch der junge James Blake, wahrscheinlich wirklich ein Genie, der mit seiner unfassbar tollen Stimme diese Feststellung durch die Loop-Geräte schickt: „There’s a limit to your love.“ Oder die betörenden Fleet Foxes, die ihr grandioses Konzert mit dieser zarten Hoffnung beenden: „Some day I'll be like the man on the screen.“ Oder natürlich John Grant, der trotz schlecht aufgelegtem Tim Isfort Orchesters ausgedehnte Schauer über den Rücken schickt: „Bittersweet strawberry marshmallow butterscotch / Polarbear cashew dixieland phosphate chocolate / My tutti frutti special raspberry, leave it to me / Three grace scotch lassie cherry smash lemon free.“ Endlich habe ich verstanden. Hey, wo bleibt ihr? Ich warte! Mal wieder!