Draußen fliegen Leitplanken und Lkws vorbei, drinnen zerbröselt mein trockenes Käsebrötchen. Die Krümel sind überall. Nie wieder Billig-Bäcker! Ich schaue an mir runter, wische Krümel von Hemd und Hose und komme von der Spur ab. Wieso ist
Brötchenessen am Steuer erlaubt, aber Telefonieren nicht? Scheint mir viel gefährlicher. Tief durchatmen. Die Krümel erinnern mich an etwas, eine
Szene aus „Just Kids“. Ich habe Patti Smiths’ Buch über ihre
Beziehung zu Robert Mapplethorpe nie gelesen, aber Freunde haben mir
Szenen daraus erzählt. Zum Beispiel die, in der Robert Mapplethorpe
bei einem Spaziergang plötzlich stehen bleibt und sich in der
Betrachtung eines zersprungenen Kirchenfensters verliert. Er beugt
sich zu den Scherben am Boden und fängt vorsichtig an, sie nach
Größe und Farben zu sortieren und neu zusammenzusetzen. Patti Smith
schreibt, dass sie das Bild dieser in der Sonne schimmernden
Farben-Collage, die ich mir ein bisschen wie Gerhard Richters Fenster
im Kölner Dom vorstelle, bis heute in ihrer Erinnerung bewahre. Bei
Robert Mapplethorpes Tod blitzte es auf und sie fragte sich, ob sie
in der Lage sein würde, ihr in Scherben liegendes Ich neu
zusammenzusetzen - „to face the future and stand the past“. Ich
fragte mich, ob sich die trockenen Krümel in meinem Auto vielleicht
zu einem saftigen Stück Kuchen zusammensetzen lassen würden – und
wann endlich dies latent depressive Ich zerfallen würde, das ich
seit dem Herbst mit mir herumtrage. Nächste Ausfahrt: Haldern Pop
Festival.
Seit einigen Jahren treffen wir auf dem Haldern Pop liebe Menschen aus
Österreich, die gute Freunde und Vorbilder geworden sind. Sie saufen
vorbildlich, weil kultiviert: Schwechater und Otterkringer sind viel
besser als unser Pils und der „Spritzer“ wird mit gutem
burgenländischem Wein gefertigt, von dem sie gleich 36 Flaschen
gekauft haben, damit es nicht zu Engpässen kommt. Eine Abordnung
kauft jeden Morgen eine Auswahl internationaler Tageszeitungen, alle
arbeiten sie akribisch durch und diskutieren anschließend
weltpolitische Entwicklungen und das Feuilleton im Vergleich. Nachts
singen sie voller Inbrunst zur Gitarre am Lagerfeuer –
hintersinnige Austropop-Schlager und feinen Folk von Neil Young oder
den Toten Hosen („Bayern“). Mira und Sibylle aus Wien, die oft
gedankenverloren unbekannte Punkte in der Ferne fixieren, lehren
mich, dass es lohnend ist, unsere heimelige Ecke auf dem Zeltplatz
dann und wann zu verlassen und in die örtliche Kirche zu spazieren.
Hier finden seit einigen Jahren Konzerte im Festivalprogramm statt,
die das Publikum in großer Aufmerksamkeit und Andacht verfolgt.
Die schwangere Linda hat eine Pipi-Train eingerichtet, das heißt, dass
man sie zu regelmäßigen Abfahrtszeiten zur Toilette begleiten
darf. Ich nutze die Gelegenheit um 18.12 Uhr und bewundere Linda,
dass sie zwei Monate vor ihrem Geburtstermin noch mit auf das
Festival gekommen ist: „Ich habe eine ganz tolle Schlafwurst und
habe damit lange nicht mehr so gut gelegen wie hier auf der
Luftmatratze“, sagt sie. „Wie kriegen wir das denn hin, dass der
Kleine nächstes Jahr mitkommt?“, frage ich. „Wir setzen ihm
gleich nach der Geburt Kopfhörer auf“, sagt Linda. -„Warum?“
–„Weil er die später als Lärmschutz vor der Bühne tragen
muss.“ Ich stelle mir den kleinen Kopfhörer-Zwerg vor und drehe
kurz vor den Dixieklos schmunzelnd in Richtung Dorfkirche ab.
Im hohen Gewölbe ist es voll und überraschend fast heißer und
schwüler als draußen. Die Leute sind unruhig, während
Hüsker-Dü-Legende Grant Hart sich an Kontemplation versucht. Ein
Kammerorchester mit Namen Stargaze untermalt seine Songs im
Scott-Walker-Stil, intensive, opernhafte Kleinode. Der Gesang
changiert zwischen Tuscheskizze und fetten Ölschinken. Manche Stücke
sind avantgardistische Klangcollagen und klingen wie zerborstene
Kirchenfenster auf einem Boden aus Publikumsgemurmel. Irgendwann
bricht Grant Hart einen Song ab: „Ich weiß nicht, ob einige hier
vielleicht auf ein anderes Konzert warten“, sagt er, „aber dann
sollten sie es lieber draußen tun. Ich brauche etwas Konzentration
für das, was ich hier tue.“ Große Teile des Publikums bestärken
ihn mit Applaus, doch der Auftritt bleibt schwer fassbar aus dem Takt
geraten.
Später am Abend spaziere ich zurück zum Zeltplatz vorbei an Wiesen und
Feldern, Kuhweiden und Bauernhöfen, Ställen, aus denen Musik dringt
– Melk-Musik. Hinter einem schiefen Haldern-Ortsschild blitzt die
Sonne hervor. Die Schönheit dieses Ortes ist überwältigend, aber
seit Grant Harts Konzert in der Kirche zweifle ich generell am
Konzept Musik-Festival: Schwindet im Überangebot automatisch die
Aufmerksamkeit für den einzelnen Künstler? Werden die Leute mir
auch in heiß ersehnten Auftritt von Sun Kil Moon reinquatschen?
Werden sie Patti Smith als mehr sehen, als das Relikt einer
vergangenen Zeit? Als ich das letzte Feld vor dem Zeltplatz erreiche,
kann ich es kaum glauben: Wie vor elf Jahren, als sie schon einmal in
Haldern gespielt hat, wandelt mir Patti Smith entgegen. Ihre
graublonde Mähne schimmert in der Sonne leuchtend weiß. Sie
flaniert durch das abgemähte Korn und scheint alle Zeit der Welt zu
haben. Ich nehme mir ein Herz und sage: „Good Evening.“
„Hello my friend“, antwortet Patti Smith und es klingt echt, warm und
freundlich. Ich nehme Hut und Sonnenbrille ab und sie muss kurz
lachen über diese altmodische Geste der Höflichkeit. Obwohl ich in
den vergangenen Jahren immer mal wieder berühmte Menschen interviewt
habe, bin ich jetzt unsicher. Ich weiß wenig über Patti Smith, habe
eher Bilder als Fakten im Kopf: Die Albumcover von „Horses“ und
„Wave“, ein Foto mit verwuschelten Haaren hippieesken Steinketten
und nackten Brüsten. Etwas an dieser Begegnung erinnert mich an die
mit Bob Dylan vor zwei Jahren ein paar Meter weiter: Meine
Unsicherheit ist mir nicht unangenehm. Ich glaube, das Patti Smith
sie spürt genau wie Bob Dylan sie gespürt hat. Ich glaube, dass sie
alles weiß, mein Innerstes kennt, dass ich vor ihr nicht falsch sein
muss oder mich selbst belügen. Ein bisschen sind diese Stars so wie
ich mir Gott vorstelle. Nach einer wahrscheinlich nur gefühlt langen
Phase des Schweigens, sagt Patti Smith selbst etwas: „You know
these fields?“, fragt sie und zieht mit der Hand einen weiten Bogen
hinter sich. Ich fahre zwar seit elf Jahren auf das Haldern-Festival
und betrachte es als eine zweite, oder vielleicht sogar erste,
Heimat, trotzdem war ich nie in den Feldern spazieren.
„I've been walking around for hours“, sagt sie, „it’s so beautiful.“
Ich wundere mich, dass sie die Zeit für lange Spaziergänge findet.
Ich dachte, man würde als Rockstar viel Zeit im Backstage-Bereich
und mit der Band verbringen müssen, abhängen, reden und trinken.
„Es ist gerade auf Tour wahnsinnig wichtig“, erklärt mir Patti
Smith, „dass man sich Zeit für sich nimmt. Man lebt wie in einer
Blase, wird an den Auftrittsorten hofiert, verehrt. Aber nach Jahren
weiß man, dass die Leere nach einem Auftritt, nach Plattenaufnahmen,
Interviews oder Partys umso größer ist, die Löcher größer und
schwärzer. Du entdeckst Seiten an dir, die dir unbekannt waren, die
dir eine Heidenangst machen. Du denkst den Tod als Rettungsanker.“
Patti Smith fixiert jetzt gedankenverloren einen unbekannten Punkt in
der Ferne und ich bin sprachlos. Von der Schönheit der Felder ist
sie sehr schnell auf depressive Zustände und Todessehnsucht zu
sprechen gekommen. Aber ich verstehe gut, was sie meint. So wie man
sich als Rockstar vielleicht von Auftritt zu Auftritt hangelt,
hangele ich mich von einem besonderen Ereignis zum nächsten. Ein
Urlaub, ein Festival, ein tolles Konzert, eine Party. Ich glaube,
viele Menschen sind heute so. Ihr Glück liegt nicht im Alltag,
sondern in der Ausnahme.
„Ich wollte dich nicht verstören“, sagt Patti Smith. „Und ich komme
auch nur drauf, weil ich dort hinten in diesem kleinen Buchenhain
gerade meinen alten Freund Grant Hart getroffen habe. Er hat mir von
seinem Auftritt in der Kirche erzählt. Er fühlte dort, was er lange
nicht gefühlt hat: Diese Sehnsucht nach Anerkennung und die tiefen
Zweifel, ob das, was man tut, eine Relevanz hat, einen Ort in dieser
Welt. Ich frage mich das auch dann und wann. Ich frage mich, ob ich
meine Berechtigung für große Bühnenauftritte nur noch habe, weil
ich das zwar gealterte, aber das Bild von damals bin. Hast du Conor
Oberst gesehen?“ Ich nicke und glaube zu wissen, auf welche Szene
Patti Smith anspielt: Conor Oberst sagte auf der Bühne, man habe ihm
erzählt, dass er vor elf Jahren schon hier gespielt hat. Jetzt sei
er alt, fett, „out of shape“, aber wir würden schon irgendwie
klar kommen damit. Er traf damit den Kern von Überlegungen, die ich
seit einiger Zeit anstellte: Erlischt die Zugangsberechtigung für
bestimmte Bereiche unserer Welt, wenn man ein gewisses Alter
überschreitet? Wie überlebt man als Teil der Popkultur, wenn man
nicht jung und cool ist? Wie kann ein interessantes Konzept aussehen
für ein Leben jenseits der 40? Vielleicht wie das von Mark Kozelek.
Der Mann hinter Sun Kil Moon stand bei seinem Auftritt im Halderner
Spiegelzelt irgendwann aus dem sicheren Sitz am linken Bühnenrand
auf, legte die Gitarre weg und präsentierte einen Hängebauch unterm
Doppelkinn: „Conor Oberst hat gesagt, er wäre out of shape. Was
soll ich denn sagen?“, fragte er und das ganze Zelt lachte. Zwei
Minuten später schossen den Menschen bei „I Can’t Live
Without My Mothers Love“ Tränen aus den Augen. Was für ein
Wechselbad der Gefühle. Ich habe so etwas noch nie erlebt.
„Grant Hart begleitet mich später bei meinem Auftritt“, sagt Patti
Smith. „Wir werden natürlich die alten Sachen spielen, ‚Because
The Night’, ‚Gloria’, ‚Horses’. Ich werde für Jerry Garcia
spielen, für Lou Reed und Johnny Winter, für Grant und mich selbst.
Ich weiß nicht, ob wir diesen Zustand je erreichen werden, dass uns unser Alter egal ist und wie das Publikum reagiert. Wir werden
immer wieder in Scherben liegen und uns neu zusammensetzen. Aber das
ist okay.“ Sie legt mir ihre Hand auf die Brust, irgendwo zwischen
Schulter und Herz, und ich wage nicht, zu sprechen. Mir fällt auf,
dass ich nach meinem Guten-Abend-Gruß überhaupt nichts mehr gesagt
habe. Aber das macht nichts. Ich spüre der Energie nach, die da
fließt. Einer Energie, die ich zuletzt gespürt habe, als ich
Salingers „Seymour, eine Einführung“ las. Eine Kraft, die eine
Zeitlang Scherben neu zusammenfügen und zusammenhalten kann. Zurück
am Zeltplatz finde ich Mira, die über dem Zeit-Feuilleton
eingeschlafen ist. Ich wecke sie, damit wir in die Sterne schauen und
über Sun Kil Moon sprechen können.
Achtung: Die Einträge auf Der Goldene Westen können hohe fiktive Anteile enthalten.
Foto: Sebastian Schwappacher