Montag, 5. Mai 2014

Kong-Guru (Thailand-Fragmente, Teil eins)

Die Welt ist beige, lila und rosa. Die Bildschirme an den Plätzen blitzen, die Zähne der Stewardessen auch. Sie tragen Frisuren wie aus Ebenholz geschnitzt. Mit Thai Airways zu fliegen ist wie Disneyland besuchen – eine durchaus angenehme Erfahrung, aber hey, das hier ist doch nicht die richtige Welt? Diesen Gedanken habe ich oft, wenn ich auf Pressereise bin. Man lebt fremdgesteuert, wie in einer Blase. Das Programm ist vorgegeben und oft so expensive, dass ein Mensch in meiner beruflichen Situation gar nicht auf den Gedanken kommen würde, es zu buchen. In Bangkok hämmernde Kopfschmerzen, ausgetrocknete Atemwege und wieder dieser Schwur: Nie wieder ein Langstreckenflug. Bernd ist der einzige Raucher in unserer Gruppe und winkt mich raus zu sich, vor eine der Drehtüren des riesigen Flughafenmonsters: „Guck mal“, sagt er und zeigt in die Luft. Er will mir die schwüle Hitze zeigen. Etwas, das so schwer wiegt, muss doch sichtbar sein. Nach den Florida-Keys im vergangenen Jahr bin ich das zweite Mal in meinem Leben extrem dankbar für die Erfindung der Klimaanlage und schaue im Van, der uns zum Hotel bringt verliebt die Lüftung an. Unser Reiseführer stellt sich als „Top“ vor. Sein richtiger Name sei so unaussprechlich, dass er ihn uns erst gar nicht verraten will. Er hat die Touristenperspektive völlig antizipiert – und Thailändisch scheint neben Finnisch eine der unlernbaren Sprachen zu sein. Man versucht es am besten gar nicht erst. Nach mehrmaliger Bitte bringt uns Top widerwillig bei, wie man „Guten Tag“ sagt. Frauen müssten es anders sagen als Männer. Ich finde interessant, dass eine Sprachgemeinschaft die Geschlechterunterschiede derart zementiert. Auf der Bootsfahrt erzählt Bernd, dass es nirgendwo so viele Ladyboys gebe wie in Thailand. Wie sagen sie wohl Guten Tag? Auf einem Niederflurholzboot schippern wir durch die Kongs, die Kanäle, die noch vor (relativ) kurzer Zeit die einzigen Verkehrswege der Stadt waren. Mit den Autos, die der damalige König vor ca. 100 Jahren importierte, ist ein Moloch gewachsen. Eine Stadt über mehrere Etagen. Wie in einem Urwald mit seinen vielen Vegetationsschichten, schichten sich hier Straßen, portable Shops, Kabelsalate, Gebäude, Hochstraßen, die Skytrain, Hochhäuser. Statt des dichten grünen Dachs hat Bangkok ein graues – aus Sichtbeton. Im Boot muss ich an Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ denken. Von den Flussufern blickt mir allerdings nicht dunkle, tiefschwarze, undurchdringbare, menschenfeindliche Leere entgegen, das Fehlen jeglicher Zivilisation. Es sind im Gegenteil ihre chaotischen Auswüchse – das vom Menschen Gemachte, was ihm selbst wieder feindlich entgegenschlägt. Kabel, Kabel, Kabel, „95 Prozent liegen hier oberirdisch“, sagt Top, Buden aus Fundstücken: verschiedenfarbigen, morschen Brettern, Blechplatten und vielen Werbeschildern. Ihre Versprechen wirken an den zerfallenden Häusern der Armen Flussanwohner besonders lächerlich. Diamon („Diamon is a girls best friend“) ist unser Kong-Guru, also der Bootsführer. Er navigiert uns mit einer Eisenstange, an der ein nackter Motor befestigt ist. Ein röchelndes, stinkendes, rauchendes, öliges Ungetüm, aber irgendwie dient es ihm. Zwischen den ärmlichen Behausungen erscheinen leer gezogene Baugrundstücke: „Ein Haus, drei Millionen Baht“, sagt Diamon. Er stellt das einfach so in den Raum. So wie er mit Blick auf Chinatown sagt: „Chinese are everywhere.“ Vielleicht spricht da die Angst, die ich in Estland kennen gelernt habe, wenn es um die Russen ging. Oder die die Schweizer gegen die Grenzöffnung stimmen lässt. Die Angst vor dem übergroßen Nachbarn, der stets drohenden Invasion. Eigentlich wirkt Diamon aber gar nicht ängstlich, sondern eher ungewöhnlich zutraulich. Einmal bohrt er aus heiterem Himmel dem dicken Harald seinen Finger in den Bauch: „Too much beer, like me.“ Als ich später im Einkaufszentrum ein zu kleines T-Shirt anprobiere und nicht wieder herauskomme, hat der Verkäufer deutlich größere Scheu und berührt mich so kurz wie möglich um Hilfe zu leisten. Er ist peinlich berührt, aber lächelt dabei. Es ist wohl eins der vierzehn Lächeln, die es im Land des Lächelns gibt. Eins bedeutet auch „Nein“. Ein anderes sicher auch „Verpiss dich, du Arschloch.“ Aber ich schweife ab. Ich wollte noch etwas von der Bootstour über die Kongs erzählen: Unvermittelt halten wie an einem der improvisierten Shops und Diamon kauft vier Weißbrote. Niemand von uns hat Hunger. „It’s fort he catfish“, sagt er der Kong-Guru und wirft exemplarisch ein komplettes Brot in den Fluss. Zu Tüten, Dosen und dem sonstigen Müll, der hier herumschwimmt. Sofort fängt das Wasser an zu brodeln, riesige Mäuler reißen große Stücke heraus und schnellen damit in die Tiefe. Die Fische zu füttern ist Teil der Almosenkultur. Die Mönche aus den gefühlten 20 buddhistischen Klostern, die wir besichtigen (95 Prozent der Bevölkerung sind Buddhisten), gehen morgens früh mit Schalen in die Nachbarschaft. „Meist haben sie nach 500 Metern schon mehr bekommen, als sie brauchen“, erklärt Top. Also füttern sie die Straßenhunde und –Katzen, die in den Klöstern leben wie im Tierheim ohne Zwinger. Eine Katze liegt entspannt zwischen den Schuhen, die die Besucher am Eingang ausziehen müssen. Ein Novize kommt und trägt sie weg. Ich schaue ihm nach bis zu einer Art Altarraum, an dem er scharf einbiegt und mein Blickfeld verlässt. Der Raum ist glänzt golden, grün, rot und gelb und blau. Golden sind die Buddha-Statuen verschiedener Größen, grün eine Pagode, die in ein Gewölbe reicht, das mit Sonne, Himmel und Sternen bemalt ist. Ich kann nicht glauben, dass dieser Kitsch eine Gestalt des Heiligen oder Göttlichen ist. Erleuchtung erschien mir selten weiter entfernt. Die jungen Klosterbesucher, sie haben gerade Schulferien, verneigen sich abwechselnd vor Buddha und neigen sich über ihre Smartphones. Welche Verbindung ist stärker? Die zur religiösen Tradition der Heimat, zu den modernen Kommunikationsmitteln – oder der westlichen Popkultur-Hegemonie. Kein Restaurant oder Einkaufszentrum, wo nicht R’n’B aus den Lautsprechern schallt. Man trägt Jeans, T-Shirt und Flip Flops, wie überall in der mir bekannten Welt, wenn es denn warm genug ist. Die Menschen lächeln in Werbevideos für die Fluggesellschaft oder Werbetafeln für günstiges Internet, in den Shops auf der Straße. Frauen winken aus den ärmlichen Hütten am Flussrand. Ich kann hier keine schöne Frau sehen ohne mitzudenken, was ein Großteil der Touristen in ihnen sieht: ein Objekt der sexuellen Begierde – oder -Gier. Die Kinder-Prostitution werde mittlerweile so hart verfolgt, dass sie fast komplett nach Kambodscha abgewandert sei, teilt jemand beim Abendessen mit. Ich frage mich, ob das eine Erfolgsmeldung sein soll. Schönheit ist in diesem Land selten rein oder unschuldig. Zumindest kann ich sie nicht so wahrnehmen. Zwei Weisheiten noch:
1. „In Bangkok gibt es keinen Durchschnitt“, sagt Top auf unsere Frage, wie viel zum Beispiel ein Kellner im Restaurant durchschnittlich verdiene. Alles sei hier eng beieinander: Großer Reichtum, große Armut, die Facetten dazwischen. Diese innergesellschaftlichen Beziehungen äußern sich im uneinheitlichen Stadtbild. Schicke Glastürme wachsen aus schiefen Bretterbuden und grüßen ihre Geschwister, die ungemütlicher als sozialistische Plattenbauten wirken.
2. „In Bangkok ist man entweder nass vom Schwitzen oder vom Regen“, erklärt Top während er kalte Handtücher aus der Kühltasche verteilt. Ich gehe dann mal duschen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen